Realität und Vision
Alles, was Sie schon immer über den digitalen Zwilling wissen wollten.
Michael Heiss
Ich kaufe eine neue Maschine, ein paar Werkzeuge dazu und eine Steuerung. Diese neue Maschine soll eine wichtige Rolle in der Verbesserung des Fertigungsprozesses meiner Fabrik spielen. Die Lieferzeit ist zwei Monate. Schon jetzt kann ich mir aber die Digitalen Zwillinge (Digital Twins) der Maschine, der Werkzeuge und der Steuerung runterladen. Diese baue ich gleich in den Digitalen Zwilling meiner bereits bestehenden Fabrik ein.
Wo wird die neue Maschine ideal platziert, um die Transportwege und die Ergonomie zu optimieren? Wie kann ich den CO2-Footprint meiner Fabrik optimieren? Wie muss ich den Steuerungscode für die Maschine abhängig vom verwendeten Werkzeug programmieren, um die Produktionszeit möglichst kurz zu halten, aber trotzdem Kollisionen zu vermeiden. Diese und viele andere Fragen kann ich vorab am Digitalen Zwilling analysieren und lösen, noch bevor die Maschine geliefert wird.
Ist das alles nur eine Industrie 4.0-Vision, oder bereits Realität?
Digitaler Zwilling, was ist neu?
Die Bezeichnung Digitaler Zwilling (auf Englisch: Digital Twin) ist fast selbsterklärend: Das Wort Digital gibt den Hinweis, dass es sich beim Digitalen Zwilling um eine digitale Repräsentanz von etwas Realem handelt. Das Reale kann z.B. ein Produkt, eine Maschine oder ein Prozess sein. Das Wort Zwilling impliziert, dass die Eigenschaften des Zwillings dem realen Gegenpart möglichst ähnlich sein sollen.
So wie die Eigenschaften von zwei menschlichen Zwillingen nie 100% identisch sind, so wird auch der Digitale Zwilling nie in den Eigenschaften identisch mit jenen des realen Gegenparts sein. Wichtig ist nur, dass er in allen für uns relevanten Eigenschaften so gut wie identisch ist.
Ist also ein Digitaler Zwilling nur ein anderes Wort für ein Modell und der darauf basierenden Simulation? Ja, aber bisher hat man unter einem Modell etwas verstanden, das nur einen bestimmen Aspekt modelliert hat, also nur aus einem Blickwinkel dem Realen möglichst ähnlich war. Man kann das auch Digitalen Schatten nennen.
Die Erwartungshaltung an den Digitalen Zwilling ist, dass er in allen wesentlichen Aspekten und Blickwinkeln die Eigenschaften des Realen modelliert. Zum Zeitpunkt des Erwerbs der Maschine weiß der Maschinenhersteller ja noch nicht, was ich mit dieser Maschine im Laufe des Maschinenlebens machen werde.
Deshalb soll der Digitale Zwilling ein Multi-Purpose-Modell sein. Oft bedingt die Erwartungshaltung an diese unterschiedlichen Anwendungsfälle, dass der Digitale Zwilling viele physikalische Methoden (Multi-Physics) abdecken muss: wenn ich die Maschine unter Voll-Last betreiben will, dann kann zusätzlich zum mechanischen Bewegungsablauf die Temperaturentwicklung ein wichtiger Aspekt sein.
Der Digitale Zwilling ist bereits Realität
Wo stehen wir mit den Digitalen Zwillingen / Digital Twins im Zeitalter des Internet der Dinge (auf Englisch: Internet of Things bzw. IoT) und Industrie 4.0? Wie passen Vision und Realität zusammen?
Vision 1: Der Digitale Zwilling deckt alle relevanten Eigenschaften ab
Das ist heute Realität: die industriellen Simulationspakete sind bewusst so gestaltet, dass sie für ein Gebiet möglichst alle relevanten Eigenschaften modellieren können. Das gilt insbesondere, so lange ich nicht mehrere physikalische Eigenschaften im Dreidimensionalen (3D) kombinieren will.
…
Vision 6: Der Digitale Zwilling lernt von selbst dazu und wird immer besser
Mit den heute verfügbaren Künstliche Intelligenz-Methoden – wie beispielsweise Neuronalen Netzen – ist dies möglich. Dieser Lernvorgang muss jedoch von Experten geeignet aufgesetzt werden. Die derzeit industriell eingesetzten automatischen Lernvorgänge sind sehr spezifisch für die Anwendung aufgesetzt und lernen meist nur einzelne Parameter eines Digitalen Zwillings.
Ein „Hampelmann“ ist kein Digitaler Zwilling
Bei einer komplizierten Maschine oder einer Roboter-Fertigungslinie könnte man einfach die aktuelle Position aller Komponenten am Bildschirm fotorealistisch darstellen. Das sieht dann sehr nett aus, wenn man den Bildschirm direkt neben die Maschine stellt und sich die Maschine am Bildschirm genau gleich bewegt wie die echte Maschine. Das hat aber nichts mit dem oben beschriebenen Digitalen Zwilling zu tun. Ich nenne das etwas abfällig einen „Digitalen Hampelmann„. Der große Unterschied: beim Digitalen Hampelmann werden nur die aktuellen Ist-Positionen gemessen und angezeigt, ohne die Eigenschaften der Maschine zu kennen. Hingegen wird beim echten Digitalen Zwilling der Zwilling mit den gleichen Steuerungsdaten versorgt wie die echte Maschine und berechnet in Kenntnis der Eigenschaften der Maschine, wie er sich verhalten muss. Bewegt sich dann der Digitale Zwilling synchron mit der realen Maschine, hat man Grund stolz zu sein, denn es bedeutet, dass man die wesentlichen Eigenschaften der Maschine im Digitalen Zwilling richtig modelliert hat.
Fast alles ist möglich, wenn man weiß wie
Es ist faszinierend, was heute schon alles mit den state-of-the-art Simulationstechnologien umsetzbar ist. Die Kunst ist, die wesentlichen Eigenschaften von den unwesentlichen zu trennen. Das reduziert signifikant die Rechenzeit. Weiters ist es eine Herausforderung, Modelle aus unterschiedlichen Domänen zu einem reifen Digitalen Zwilling zusammenzuschalten. Das erhöht nämlich meist signifikant die Rechenzeit.
Das Ziel ist ein Digitaler Zwilling, der mit der heutigen Rechenleistung die Ergebnisse ausreichend schnell berechnen kann. In vielen Anwendung ist erforderlich, dass der Digitale Zwilling in Echtzeit läuft. Für komplexere Optimierungen, bei denen im Vorfeld Tausende von Szenarien durchgespielt werden, kann der Digitale Zwilling auch langsamer oder im Idealfall schneller als in Echtzeit laufen.
Fazit: Digitaler Zwilling verbessert Geschäftsabläufe
Der Digitale Zwilling modelliert alle wesentlichen Eigenschaften von seinem realen Gegenstück und kann es testhalber ersetzen – noch bevor das reale Produkt, die reale Maschine, der reale Prozess wirklich gebaut oder umgesetzt wurde. Das ermöglicht mir schon vorab tausende Varianten des Digitalen Zwillings durchzutesten und nur die beste davon real umzusetzen. Das spart Zeit und Geld und erhöht die Qualität des Ergebnisses.
Den gesamten Beitrag von Prof. DI Dr. Michael Heiss, Principal Consultant für Digital Enterprise bei der Siemens AG Österreich, können Sie auf der Webseite von Akademie3 lesen.