Blick auf ein Gebäude der Siemens City in Wien mit PV-Anlage © Siemens
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Ein Microgrid geht um die Welt

Die Microgrid-Expertise von Siemens Österreich ist international gefragt.

Digitale Transformation

15.02.2024

Lesezeit 8 Min

Christian Lettner

Die schwankende Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien ist eine der großen Herausforderungen der Energiewende. Denn die Erzeugung aus Windkraft und Solaranlagen ist nicht beliebig regulierbar und richtet sich nicht nach dem Stromverbrauch der Nutzenden. So kann es dazu kommen, dass Gaskraftwerke heruntergeregelt oder Windparks abgeschaltet werden müssen, damit das Netz nicht überlastet wird. Je mehr erneuerbare Energien integriert werden, desto anfälliger gegenüber den Volatilitäten ist das Netz. Und genau an der Stelle kann ein Microgrid helfen: In einem Microgrid können durch intelligente Steuerung Peaks, also Spitzen, frühzeitig erkannt und abgefedert werden. So wird das Gesamtnetz entlastet, es werden Ressourcen geschont und letztlich Kosten gespart.

Pionier-Microgrid in Wien

Am Campus der Siemens City in Wien ist seit dem Jahr 2020 ein Microgrid in Betrieb. Es handelt sich dabei um die erste Microgridanwendung an einem Siemens-Standort weltweit. Da es bei Siemens in Österreich schon eine so lange Erfahrung und daher ein entsprechendes Know-how auf diesem Gebiet gibt, unterstützen die Kolleg:innen mittlerweile nicht nur österreichische Industriekunden, sondern auch andere heimische und internationale Siemens- Standorte bei der Konzeption und beim Aufbau von Microgrids. Außerdem fließt die Expertise in renommierte Forschungsprojekte ein bzw. wird sie an Universitäten geteilt.

Die Bestandteile des Microgrids in der Siemens City sind folgende: eine PV-Anlage, ein Stromspeicher, Ladepunkte für Elektrofahrzeuge, ein Lastmanagement und eine Schnittstelle zum Gebäudemanagementsystem. Da das Microgrid in Wien vor der Coronapandemie geplant wurde und während der ersten Lockdowns in Betrieb ging, war man von anderen Einsparungsgrößen ausgegangen, die etwa durch die schwächere Belegung der Büros aufgrund von Homeoffice reduziert wurden. Die generelle Funktionsweise und die – wenn auch geringer als ursprünglich geplant – erreichten Einsparungen konnten durch das Coronavirus aber nicht eingebremst werden.

Ein wichtiges Funktionsmerkmal des Siemens Campus Microgrids ist das sogenannte Peak Shaving. Dabei wird bei Erreichen eines bestimmten Schwellenwerts der benötigten Leistung der Bezug aus dem Stromnetz limitiert, indem Verbraucher kurzfristig Last abwerfen und so das Netz entlasten. „Wir haben am Campus der Siemens City eine Grundleistung von etwa zwei Megawatt. Dazu tragen hauptsächlich das Datacenter auf dem Gelände, der Standbybetrieb verschiedener Geräte und Testaufbauten von Leitsystemen, die teilweise im Dauerbetrieb laufen müssen, bei“, so Manfred Haslinger, Head of Sales im Bereich Energieautomatisierung bei Siemens Österreich. „Unser Sollwert für die Bezugsleistung aus dem Stromnetz ist auf rund 3,2 Megawatt eingestellt. Überschreiten wir diese Leistung, reagiert der Microgrid-Controller und es wird Energie aus der Batterie entnommen, um eine höhere Verbrauchsspitze zu vermeiden. Der Leistungspreis wird nämlich nach der Verbrauchsspitze berechnet und damit können Kosten eingespart werden“, erklärt Haslinger. Die Batterie wird bei Bedarf durch die PV-Anlage am Siemens-Gelände aufgeladen.

© Siemens

„Überschreiten wir einen Leistungssollwert, reagiert der Microgrid-Controller und es wird Energie aus der Batterie entnommen, um eine höhere Verbrauchsspitze zu vermeiden. Damit können Kosten eingespart werden.“

Manfred Haslinger, Head of Sales im Bereich Energieautomatisierung bei Siemens Österreich


100 Tonnen CO2-Einsparung pro Jahr

Die erwähnte PV-Anlage, die auf dem Dach eines Gebäudes der Siemens City installiert ist und eine Gesamtfläche von 1.600 Quadratmetern aufweist, hat eine Spitzenleistung von rund 300 Kilowatt. Pro Jahr erzeugt sie etwa 300 Megawattstunden elektrische Energie und trägt mit einer eingesparten Menge von rund 100 Tonnen CO2 pro Jahr nennenswert zur Reduktion des CO2-Footprints von Siemens bei. „Bei der momentan verfügbaren Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge am Siemens-Campus federt die PV-Anlage viel ab. Im Schnitt kann von März bis Oktober die Energie für die Ladevorgänge zu 90 Prozent durch Sonnenenergie abgedeckt werden“, sagt Haslinger. Die PV-Anlage ist aber auch für andere Verbräuche eines Bürogebäudes eine ideale Kombination, um Lastspitzen zu reduzieren. Der Lastgang des Siemens-City-Campus deckt sich sehr gut mit dem Sonnenstandsverlauf. In der Früh und am Vormittag steigt der Strombedarf an, zu Mittag ist er durch das Restaurant für die Mitarbeitenden am höchsten und am Nachmittag nimmt er wieder ab. „Das ist anders als im Privatbereich, wo untertags bei Sonnenschein viel Energie produziert wird, die aber meistens nicht genutzt werden kann, weil die Personen untertags oft nicht zu Hause sind; eine perfekte Abdeckung des Verbrauchs“, so der Energieexperte.

Die zentrale Steuerung des Microgrids erfolgt durch den Microgrid-Controller – eine Applikation aus dem Siemens- SICAM-Portfolio für Automatisierungs- und Fernwirkgeräte. Er ermöglicht ein ausgeglichenes Lastmanagement, um Bezug und Verbrauch von elektrischer Energie im optimalen Gleichgewicht zu halten und kostspielige Bedarfsspitzen zu vermeiden. Eine weitere wichtige Lastmanagement-Funktion erfüllt der Microgrid-Controller etwa beim Laden von Elektrofahrzeugen: „Wenn ein Schnelllader mit 50 kW Leistung in Betrieb ist, dann werden andere Ladestationen mit weniger Leistung nach unten reduziert, um die Anschlusskabel nicht zu überlasten und wiederum um Verbrauchsspitzen zu vermeiden“, erläutert Haslinger.

Ebenso hat der Microgrid-Controller eine wichtige Rolle im Zusammenspiel mit dem Gebäudemanagementsystem der Siemens City – Desigo CC von Siemens. Ist der Energieverbrauch zu hoch, kann der Microgrid-Controller auch in diesem Fall temporär in das Lastmanagement der Ladeinfrastruktur eingreifen. Auch in die umgekehrte Richtung ist es grundsätzlich möglich, ausgewählte Leistungen vom Gebäudemanagementsystem vorübergehend zu reduzieren, wenn zu viel Strom aus dem Netz bezogen wird. „Wichtig bei so einem Eingriff ist die Akzeptanz. Die Mitarbeitenden in den Büros sollen diese Vorgänge gar nicht bemerken“, so der Microgrid-Spezialist.

Beim Peak Shaving wird momentan durch die Möglichkeit des Homeoffice das Potenzial noch nicht voll ausgeschöpft. Die Optimierung des Leistungsbezugs wird aber durch das Vorhaben, die Siemens-Flotte vollständig auf Elektrofahrzeuge umzustellen, wieder mehr an Bedeutung gewinnen. Im Bereich Lasten bzw. Flexibilitäten sind etwa Produktionssteuerungen und Betonspeicherkerne weitere Assets, die in ein Microgrid integriert werden können; auf Erzeugungsseite wären es zum Beispiel Windgeneratoren oder Biomassekraftwerke.

Know-how aus Österreich für Siemens-Standorte weltweit

Durch die frühzeitige und langjährige Beschäftigung mit den Themen Smart Grids und Microgrids gibt es bei Siemens Österreich ein tiefgehendes Know-how dazu. Die Expert:innen sind daher mittlerweile auch damit beschäftigt, ihr wertvolles Wissen für Microgridlösungen an anderen Siemens- Standorten weiterzugeben. Im August 2023 wurde ein Microgrid im Siemens-Headquarter in München installiert – unter anderem wurden die bestehenden Komponenten und Datenpunkte des Siemens-Hauptgebäudes auf die Produktplattform SICAM integriert. Damit eröffnen sich viele Möglichkeiten zum richtigen Einsatz von Ressourcen rund um das Energiemanagement am Standort. Selbst bei einem so nachhaltigen Gebäude – das Münchner Headquarter ist immerhin LEED-Platin-zertifiziert – kann man mit Hilfe des Microgrids Einsparpotenziale identifizieren. Hilfreich ist auch die Datenanalyse, die jetzt möglich ist, was etwa strategische Entscheidungen betrifft, wie viele Schnelllader in der Parkgarage angeschlossen werden können, ohne dass das Netz zu den Hauptladezeiten überlastet wird. Auch Investitionsentscheidungen in die elektrische Anlagentechnik (zum Beispiel Batterie oder thermische Puffer) können basierend auf realen Echtzeitdaten optimal dimensioniert und auf Wirtschaftlichkeit für den zukünftigen Betrieb simuliert werden. „Mit der Microgridlösung im Headquarter arbeiten wir an einem Blueprint, das mittelfristig in größeren Siemens-Standorten weltweit ausgerollt werden soll“, so Franziska Diestel, Head of Software and Digitalization im Bereich Elektrifizierung und Automatisierung bei Siemens Österreich.

Infobox

Was ist ein Microgrid?

Microgrids sind lokalisierte Energiesysteme. Sie integrieren nahtlos Technologien für erneuerbare Energien, Gebäude-, Prozess- und Energieautomatisierung sowie Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge. Einfach ausgedrückt handelt es sich bei Microgrids um kleine Stromnetze, die unabhängig voneinander betrieben oder bei Bedarf an das Hauptstromnetz angeschlossen werden können, um als Einheit zu agieren mit dem Ziel, ein Gleichgewicht im Netz zu erreichen. Ein Microgrid ermöglicht die lokale Erzeugung und Nutzung von Strom. Anders als das herkömmliche Stromnetz, das Energie in zentralen Anlagen produziert und über weite Strecken transportiert, generiert ein Microgrid elektrische Energie direkt am Verbrauchsort. Das Ziel eines Microgrid ist es, Verbraucher und Erzeuger zusammenzuführen und die maximale Leistung von erneuerbaren Energien intelligent zu verwerten.

© Siemens

Über den Autor

Christian Lettner
Chefredakteur hi!tech