Luftaufnahme der Kläranlage Wien © Siemens
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Österreichs größte Kläranlage – energieautark und digital

In einem der größten Umweltprojekte der Stadt Wien wurde die Kläranlage zu einem „Öko-Kraftwerk“.

Nachhaltigkeit

16.07.2024

Lesezeit 8 Min

Siemens

Durch das Projekt „E_OS – Energie_Optimierung Schlammbehandlung“ wurde Österreichs größte Kläranlage zur Energieselbstversorgerin umgebaut und durch eine neue Prozesssimulationsplattform digitalisiert. Realisiert wurde dies mit der Simulationsplattform SIMIT von Siemens. Damit setzt ebswien kläranlage & tierservice Ges.m.b.H einen weiteren großen Schritt in Richtung Digitalisierung und Nachhaltigkeit.

Durch die in den letzten Jahren eingetretenen massiven Energiepreiserhöhungen und das Ziel, bis 2040 klimaneutral zu sein, stehen Unternehmen unter einem hohen wirtschaftlichen Druck. Kläranlagen zählen üblicherweise zu den größten Stromverbrauchern einer Kommune. Um dem entgegenzuwirken und die maximale Energie bei geringsten Kosten auszuschöpfen, wurde das innovative Projekt „E_OS – Energie_Optimierung Schlammbehandlung“ realisiert.

In Zusammenarbeit mit Siemens wurde die Kläranlage, die für die Reinigung der Abwässer der Stadt Wien verantwortlich ist, ab 2015 zur Energieselbstversorgerin umgebaut und eine Prozesssimulation der gesamten Anlage realisiert. Mit der Simulationsplattform SIMIT von Siemens lassen sich Prozesse in der zentralen Kläranlage detailliert sowie in Echtzeit simulieren. Darüber hinaus dient sie Mitarbeitenden zu Schulungs- und Trainingszwecken, um im Ernstfall auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

Mit Schlammfaulung zur Energieselbstversorgerin

„Mit dem Projekt „E_OS – Energie_Optimierung Schlammbehandlung“ haben wir in den Jahren 2015 bis 2020 einen massiven Umbau der zentralen Kläranlage vorgenommen, um mit dem erneuerbaren Energieträger Klärgas zur Energieselbstversorgerin zu werden“, erklärt Miklos Papp, Handlungsbevollmächtigter und Leiter Technik Kläranlage von ebswien. Gemeinsam mit Projektpartnern wie Siemens wurde eines der größten Umweltprojekte der Stadt Wien realisiert und ein echtes „Öko-Kraftwerk“ geschaffen.

„Das Projekt gliederte sich in unterschiedliche Bauphasen“, erinnert sich Gottfried Blumauer, Head of Process Automation Solutions bei Siemens, und weist auf eine besondere Herausforderung hin: „Aufgrund der Sonderstellung als einzige Kläranlage der Stadt Wien durfte es zu keinen Betriebsunterbrechungen kommen.“ Um diese Challenge, die von Kunden und Projektpartnern auch als eine „Operation am offenen Herzen“ bezeichnet wurde, zu meistern, mussten die jeweiligen Anlagenteile Zug um Zug umgebaut werden. „Aufgrund der Standortgegebenheiten ist unser Areal begrenzt, d.h. wir mussten auf dem Bestandsgelände erst Platz für die Schlammbehandlung und die Gasverwertung schaffen. Dadurch bot sich wiederum die Möglichkeit, die aus den 1970iger Jahren stammenden Becken und die Anlagentechnik zu erneuern“, erzählt Miklos Papp. So konnte ein phasenweiser Abriss sowie Neubau der bestehenden Beckenanlagen der ersten Reinigungsstufe erreicht werden. Das ging auch gleichzeitig mit einer Volumensteigerung um 50 Prozent einher. Auf der entstandenen Freifläche wurde die neue Gasverwertung und Schlammbehandlung mit insgesamt sechs jeweils 30 m hohen Faultürmen und einem Gesamtvolumen von 75.000 m3 errichtet.

Die Kläranlage Wien – Österreichs größte Kläranlage. Sie wurde zur Energieselbstversorgerin umgebaut und durch eine neue Prozesssimulationsplattform digitalisiert.

Weniger ist mehr

Innovative Ansätze beim Projekt E_OS ermöglichen nicht nur eine maximale Energieausbeute, sie reduzierten auch die Errichtungskosten: Nach statischer und maschineller Schlammeindickung weist der Klärschlamm in der Wiener Kläranlage einen deutlich geringeren Wasseranteil als bei vergleichbaren Kläranlagen auf. Damit ist auch das in den Faulbehältern eingenommene Volumen geringer, was nahezu eine Halbierung des erforderlichen Faulbehältervolumens bedeutet. Der „voreingedickte“ Schlamm wird im Faulungsprozess schließlich zu Klärgas, das zu einem hohen Grad (rund 60 %) aus Methan besteht. In den Blockheizkraftwerken der Anlage kann die gewonnene mechanische Energie über Generatoren verstromt werden. Die dadurch entstehende Abwärme wird dann für Heizungs- und Warmwassererzeugungszwecke genutzt. Dazu gehört etwa das Aufheizen des Klärschlamms, die Wärme- und Kälteversorgung der betrieblichen und verfahrenstechnischen Hochbauten und die Einspeisung in das Fernwärmenetz der Stadt Wien.

Seit dem ersten vollen Betriebsjahr 2021 ist die Wiener Kläranlage Energieselbstversorgerin: Mit den erfolgreich abgeschlossenen Neu- und Umbauten erzeugt das „Öko-Kraftwerk“ aus dem Klärgas im Jahresmittel sogar mehr Energie als für die Abwasserreinigung benötigt wird. „Im Jahr 2023 haben wir 74 Gigawattstunden (GWh) an Strom produziert und 64 GWh für unsere Prozesse verbraucht. Wir haben somit rund 10 GWh an grüner Energie ins Netz eingespeist“, fasst Miklos Papp zusammen. „Bei der Wärme haben wir 2023 ebenfalls einen Überschuss. Hier wurden 64 GWh erzeugt und 36 GWh verbraucht, d.h. wir konnten 28 GWh ins Fernwärmenetz einleiten.“

Ambitioniertes Projekt    

Siemens war als Projektpartner für die gesamte Energieversorgung sowie für Automatisierung und Prozessleittechnik verantwortlich, wie etwa die Lieferung der Nieder- und Mittelspannungsschaltanlagen, Transformatoren sowie der Leittechnik für die Schaltanlagen. Das bestehende Prozessleitsystem SIMATIC PCS 7 wurde auf die aktuelle Version migriert und die bestehende Software-Library wurde durch die standardisierte Industry Library APL ersetzt. Letzteres war notwendig, um die neuen Anlagenteile überhaupt integrieren zu können. „Da die Migration und Vereinheitlichung bei laufendem Betrieb stattfanden, musste die Funktionstüchtigkeit jeder Teilanlage vor dem Austauschen der Software bis ins kleinste Detail mit der Simulationsplattform SIMIT simuliert werden. Ein Fehler hätte beim Einspielen womöglich zu einer Verzögerung oder zu einem Stillstand geführt – das ist bei einer Abwassermenge von 6.000 l pro Sekunde einfach keine Option“, erzählt Christian Korntheuer, Senior Project Manager im Industriebereich bei Siemens.

Hardwareseitig wurden insgesamt 581 Messstellen installiert, die u.a. der Durchfluss-, Temperatur- und Niveaumessung dienen. Mit dem Liefer- und Leistungsumfang von Siemens Digital Industries verfügt die ebswien kläranlage & tierservice Ges.m.b.H. nun über robuste und industrietaugliche Netzwerktechnologie auf der Basis von SCALANCE sowie über entsprechende Analytics- und Gaschromatographie-Lösungen für das Emissionsmonitoring.

Prozesssimulation mit SIMIT

Auf Basis von SIMIT wurde zwischen 2021 und 2023 ein Digitaler Zwilling der gesamten Kläranlage geschaffen. „Natürlich ist die Qualität einer Simulation nur so gut wie die ihr zugrundeliegenden Daten. Wir teilen den hohen Qualitätsanspruch von ebswien kläranlage & tierservice Ges.m.b.H und haben dafür jede Funktion bis ins letzte Detail analysiert und mit dem Prozess validiert“, erklärt Christian Korntheuer. Mit der Prozesssimulation lassen sich unterschiedliche Anforderungen realisieren. Zum einen lässt sich damit das prozesstechnische Verhalten unterschiedlicher Komponenten modellieren, zum anderen dient die Lösung aber auch Schulungs- und Trainingszwecken. „Die Wiener Kläranlage verfügt zudem über einen Notbedienplatz, der auch vom Gebäude isoliert realisiert wurde“, fügt Gottfried Blumauer hinzu. „Im Fall eines Blackouts kann dieser losgelöst von der Infrastruktur besetzt werden.“ Im täglichen Betrieb können hier neue Kolleg:innen eingeschult und Mitarbeitende realitätsnah trainiert werden, um auf alle Eventualitäten, inklusive ansonsten schwer zu trainierende Worst-Case-Szenarien, bestmöglich vorbereitet zu sein.

© Siemens

Durch den Digitalen Zwilling der Kläranlage lassen sich selbst komplexe Szenarien simulieren, um für den Ernstfall gewappnet zu sein.

Nachhaltig in die Zukunft

Das größte Projekt der Siedlungswasserwirtschaft in Österreich ist nicht nur nachhaltig, sondern aufgrund der positiven Energiebilanz auch sehr wirtschaftlich. „Die Stadt Wien ist bereits vielfach für ihre hohe Lebensqualität ausgezeichnet worden. Mit dem erfolgreichen Abschluss des Projekts tragen wir aktiv zum Klima- und Gewässerschutz bei und unterstützen das Ziel der Stadt Wien, bis 2040 klimaneutral zu sein“, so Miklos Papp.