Barrierefrei
Artikel drucken

Die Entfesselung der E-Mobilität

Immer mehr Elektrofahrzeuge mit serienmäßig installierter kabelloser Ladetechnik werden für den Straßenverkehr zugelassen.

Forschung & Entwicklung

17.01.2024

Lesezeit 7 Min

Siemens

Immer mehr Elektrofahrzeuge mit serienmäßig installierter kabelloser Ladetechnik werden für den Straßenverkehr zugelassen. Wird kabelloses Laden bald überall möglich sein? Wie effizient ist diese Technologie, und was kostet sie?

Stellen Sie sich eine Welt vor, in der Sie nicht zur Tankstelle fahren müssen. Eine Welt, in der Sie Ihr Elektrofahrzeug abstellen, einkaufen gehen und dann mit voll aufgeladener Batterie davonfahren können, ohne bei jedem Halt Kabel aus- und einzustecken. Eine Welt, in der kabellos aufgeladene Fahrzeuge die Norm sind und wo man über längere Straßenabschnitte fahren kann, die mit einer kabellosen Ladefunktion für Elektrofahrzeuge in Bewegung ausgestattet sind. Der schnell wachsende Markt für kabellose Elektromobilität hat diese Vorstellung schon seit Jahren im Sinn.

Der koreanische Autohersteller Hyundai stellte mit dem Genesis GV60 das erste kabellos ladende Elektrofahrzeug vor; kurz darauf stellte der chinesische Hersteller FAW im Verbund mit dem Immobilienkonzern Wanda Group 40 autonome Parkgaragen in Dienst, in denen Elektrofahrzeuge sich selbst aufladen und weitere Funktionalitäten nutzen können. „Der asiatische Markt für Elektrofahrzeuge ist den anderen klar voraus“, sagt Alex Gruzen, CEO des US-amerikanischen Startups WiTricity. „Wir beobachten, dass das kabellose Laden zuerst in China umgesetzt wird. Ich denke, dass Europa bald folgen wird, da Europa bei der Aufnahme von Elektrofahrzeugen eher weiter fortgeschritten ist, aber die USA und Japan holen auf.“

Die patentierte Technologie von WiTricity wurde als werkseitig installierte Ausstattung des Hyundai Genesis GV60 in Südkorea eingeführt. Die Firma erregte auch auf der Detroit Motor Show 2022 mit einem Prototyp eines Ford Mach-E mit kabelloser Ladefunktion großes Interesse.

Elektromagnetische Induktion

Kabellose Ladesysteme für Elektrofahrzeuge basieren auf elektromagnetischer Induktion. Wechselstrom in einer Spule erzeugt ein magnetisches Wechselfeld, das den drahtlosen Anteil der Energieübertragung darstellt, indem es in einer zweiten Spule in unmittelbarer Nähe wiederum Wechselstrom induziert. Das neueste System, das von WiTricity im firmeneigenen Labor in Boston entwickelt wurde, besteht aus einer Wallbox, die mittels Oszillator von 85 kHz den Wechselstrom für die Bodenplatte erzeugt. Durch diese Platte entsteht ein Magnetfeld, welches Energie enthält. Diese Energie wird durch einen am Fahrzeugboden montierten Empfänger aufgenommen, in Gleichstrom umgewandelt und in die Autobatterie eingespeist. Der Idealwert für Elektrofahrzeuge ist 11 kW. Ein System mit 75 kW Leistung für Busse und Lastwagen, das in Busdepots und Ladebuchten installiert werden kann, wird zurzeit entwickelt.

Das neueste von WiTricity entwickelte kabellose Ladesystem besteht aus einer Wandbox, die Wechselstrom für die Bodenplatte erzeugt.


Alex Gruzen betont, dass die kabellose Ladetechnologie im gut regulierten Markt für Magnetfelderzeugung „absolut sicher“ sei. „Die Signalstärke ist im gesamten Bereich in der Nähe der Unterlage so schwach, dass es keinerlei Auswirkung auf den Menschen gibt“, erklärt er. Nach Ansicht von WiTricity hat das kabellose Laden eine Effizienz von 90 bis 92 Prozent. Dieser Wert ist vergleichbar mit dem Laden via Kabel.

Die Einigung auf einen globalen Standard für kabelloses Laden ist ein zentraler Faktor für den schnell wachsenden Einfluss dieser Technologie auf die Entwicklung der E-Mobilität. Laut einem Bericht von IDTechEx soll der Markt für kabellose Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge bis 2033 auf über 6 Milliarden US-Dollar anwachsen. Dieses Wachstum wird auch von politischen Richtungsentscheidungen zur Reduzierung von Fahrzeugemissionen beflügelt, wie etwa dem Plan der EU, die Zulassung neuer benzinbetriebener Autos ab 2035 zu beenden.

WiTricity baute im Jahr 2017 eine Teststrecke in der Nähe von Paris, auf der ein Lieferwagen bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h mit bis zu 20 kW aufgeladen werden konnte. „Die nächste Welle von Elektrofahrzeug-Kunden wird mit kabelloser Ladefunktion begrüßt werden“, betont Gruzen. „Wir haben festgestellt, dass bei den Kunden der Wunsch, ein Elektrofahrzeug zu kaufen, um 68 Prozent zunahm, wenn wir ihnen die Fahrzeuge mit kabellosem Laden zeigten.“

© Siemens

„Historisch gesehen hat jede Technologie, die ohne Kabel funktionieren konnte, auf kabellosen Betrieb umgestellt.“

Alex Gruzen, CEO WiTricity

Investition von Siemens

Im Jahr 2022 investierte Siemens 25 Millionen US-Dollar in WiTricity, womit das Unternehmen sein Vertrauen in das Potenzial der kabellosen Ladefunktion für Elektrofahrzeuge unterstrich. „Die Zusage, kabellose Ladeinfrastruktur im Markt aufzubauen, war ein dramatisches Gütesiegel für unsere Technologie und bekräftigte die Nachfrage auf dem Markt“, hält Alex Gruzen fest. „Das war ein enorm wichtiger Faktor bei unseren Verhandlungen mit den Autoherstellern.“ Mit dem Zuschuss von neuem Kapital wird WiTricity die Phase der Markteinführung seiner Produkte sowohl für Personenwagen als auch für Nutzfahrzeuge beschleunigen können. Der Zuschuss wird auch die technische Weiterentwicklung der kabellosen „Vehicle-to-Grid“-Technologie ermöglichen, mit der geparkte Elektrofahrzeuge überschüssige Energie speichern und wieder ins Netz einspeisen können.

Bevor die kabellose Ladetechnik weltweit bereitgestellt werden kann, gilt es
weiterhin, Herausforderungen zu überwinden: angefangen mit der Infrastruktur und der Notwendigkeit, ein Netzwerk von Ladeunterlagen aufzubauen. In diesem Zusammenhang wollen WiTricity und Siemens an der globalen Harmonisierung von kabellosen Ladetechnologien arbeiten, um deren Einführung in der Automobilindustrie zu beschleunigen und Interoperabilität zwischen Fahrzeug und Infrastruktur zu ermöglichen. Eine weitere Hürde ist der Preis. Kabelloses Laden für Elektrofahrzeuge ist mit einem Aufpreis verbunden. Gegenwärtig bewegt sich der Zuschlag gegenüber einem Plugin-Fahrzeug zwischen 1.000 und 1.500 US-Dollar. Mit der Zeit sollen diese Zusatzkosten auf einige hundert US-Dollar gesenkt werden.

Alex Gruzen ist überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis beim Laden von Elektrofahrzeugen auf Stromkabel verzichtet wird und man ganz auf das kabellose Laden umschwenkt. „Historisch gesehen hat jede Technologie, die ohne Kabel funktionieren konnte, auf kabellosen Betrieb umgestellt. Unsere Telefone waren früher an Kabel angeschlossen, jetzt sind sie kabellos.“

Blaues eCar von WITricity

„Die nächste Welle von Elektrofahrzeug-Käufern wird mit kabelloser Ladefunktion begrüßt werden“, sagt Alex Gruzen.