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Zukunft der Stromnetze

Forschungsprojekt zu automatisierten Software-Update-Rollouts in digitalisierten Stromnetzen

Forschung & Entwicklung

08.10.2020

Lesezeit 7 Min

Christian Lettner

Bevor der Strom in einem Haushalt aus der Steckdose kommt, hat er schon einen weiten Weg durch das Netz zurückgelegt. Damit das Stromnetz auch in Zukunft zuverlässig arbeitet, muss der Betrieb digitalisiert werden. Energiegemeinschaften, private PV-Anlagen-Betreiber und diverse Energiemanagementsysteme in den Haushalten sind relativ neue Aspekte im Stromnetz, die neuartige Anforderungen an den Netzbetrieb darstellen. Das Nutzungsverhalten, für das die Stromnetze ursprünglich ausgelegt waren, verändert sich durch das vermehrte Auftreten dieser neuen Stromnetzplayer wesentlich. Auch die Steuerungen dieser neuen Teilnehmer sind im Gesamtsystem zu berücksichtigen, da auch sie Softwarekomponenten enthalten, die die Sicherheit und Stabilität des Energienetzes beeinflussen können. Darüber hinaus muss das Verhalten der Steuerungen beim Rollout neuer Funktionalität im Energienetz beachtet werden, um den gewünschten Regelerfolg erzielen zu können. Es ist abzusehen, dass mit der Digitalisierung eine Mammutaufgabe auf die Netzbetreiber und die neuen Energienetzteilnehmer zukommt. Die für den digitalisierten Betrieb erforderliche Software muss bei Bedarf aktualisiert werden können, um sichere und reibungslose Abläufe aufrechtzuerhalten. Bei einem inkrementellen Aufbau wird diese Software-Infrastruktur mit Sicherheit zudem regelmäßige Funktionserweiterungen erfahren. Diese Rollouts lassen sich auf keinen Fall manuell bewältigen, was ein Blick auf folgende Fakten deutlich macht: In Österreich gibt es rund 80.0000 Niederspannungsnetze, die den Strom von den Ortsnetztransformatoren in die Haushalte leiten, das Netzwerk von E-Auto-Ladesäulen umfasst bereits mehr als 4800 Ladepunkte und die PV-Anlagen im Land werden immer mehr und mehr.

Internationales Forschungsprojekt LarGo!

Zur Entwicklung einer Lösung für den großflächigen und automatisierten Rollout von Smart-Grid-Softwareanwendungen im laufenden Netzbetrieb arbeitete Siemens Österreich mit anderen Partnern am Forschungsprojekt LarGo! (Large-Scale Smart Grid Application Rollout) mit. Das Vorhaben erstreckte sich über drei Jahre und wurde im Frühjahr 2020 abgeschlossen. Projektteilnehmer waren neben Siemens das Austrian Institute of Technology (AIT), die Wiener Netze, das Forschungs- und Entwicklungsinstitut OFFIS in Oldenburg, das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg sowie die Königliche Technische Hochschule in Stockholm. Gefördert wurde LarGo! unter anderem von der österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG).

Das Ziel von LarGo! ist, es den für den IT-Betrieb verantwortlichen Netzbetreibern zu ermöglichen, Trafostationen auf Vorschlag des im Projekt entwickelten Systems remote auszuwählen, um dort vollautomatisch oder auf Knopfdruck neue Software bzw. Updates bestehender Software installieren zu können. Beispiele für solche Software sind Applikationen, die das Netzverhalten analysieren und potenziell problematische Situationen wie eine Überlast vorhersagen können oder direkt Eigenschaften des Systems wie etwa die Spannung regeln. Das Forschungsprojekt zeigte, dass die Integration neuer Marktteilnehmer wie Ladesäulenbetreiber, private Energielieferanten etc. ein übergeordnetes Management von Software bzw. der von ihr bereitgestellten Funktionalitäten notwendig macht, für das es momentan weder eine inhaltliche Regelung noch technische Schnittstellen gibt.

„Eine weitere Herausforderung bei der Entwicklung der Lösung war es, den Rollout bzw. das Update der Software so situationsspezifisch wie möglich zu gestalten, damit der Betrieb so wenig wie möglich gestört wird“, betont Florian Kintzler, der bei Siemens Österreich im Bereich Technology im Technologiefeld Internet of Things arbeitet und die Projektbeiträge von Siemens für LarGo! koordinierte.

Software-Rollout in Abhängigkeit von Stromnetzzustand

Im Forschungsprojekt LarGo! wurden Prozesse entwickelt, die den Rollout von Software und den Zustand des Stromnetzes koppeln. „Damit können wir die Steuerung des Software-Rollouts von jedem beobachtbaren Zustand des Systems abhängig machen“, so Kintzler. Die Nutzung von Kommunikationsnetzwerk-Ressourcen zum Download einer Software kann damit zum Beispiel von der geplanten Auslastung dieses Netzwerks abhängig gemacht werden. So können Engpässe, die bei gleichzeitiger Nutzung des Kommunikationsnetzes für den operativen Betrieb entstehen könnten, vermieden werden. Aber auch ein domänen­übergreifendes Management wird dadurch möglich. Zum Beispiel kann somit das Update einer Ladesäulenfunktion dynamisch von der geplanten oder vorhergesagten Auslastung abhängig gemacht werden. Auch die Installation einer Steuerungssoftware kann so kontrolliert werden, sodass es im System nicht dazu kommen kann, dass mehrere konkurrierende Mechanismen die gleichen physikalischen Eigenschaften steuern.

Die Anwendung des im Projekt LarGo! entwickelten Prototyps zur Steuerung komplexer Rollout-Pläne ist dabei nicht auf das Smart Grid beschränkt, sondern lässt sich auf zahlreiche andere sogenannte cyber-physikalische Systeme wie Verkehrssysteme oder Industrieanlagen ausdehnen.

Mit Simulation zum Ziel

Die Auswirkungen großflächiger Rollout- und Update-Prozesse lassen sich aus Sicherheitsgründen nicht in einem echten Stromnetz testen. Die Situation hat Ähnlichkeit mit einer Operation am offenen Herzen. Bevor diese ausgeführt wird, übt der Chirurg die Schritte unzählige Male, bis alles sitzt. Ganz ähnlich geschieht das beim Stromnetz. „Wir koppeln dafür die Infrastruktur von Informations- und Kommunikationstechnologien mit virtuellen Verteilnetzen und simulieren unterschiedliche Szenarien“, erklärt Kintzler. „Wie verhält sich das Stromnetz, wenn das Kommunikationsnetz ausfällt? Was passiert, wenn ein Algorithmus ausgetauscht wird? Werden solche Fragen im Voraus systematisch geklärt und werden die echten Rollouts und Updates danach so ausgeführt, wie sie in der Simulation getestet wurden, sind Störungen des Netzbetriebs unwahrscheinlich.“

Mittels der ebenfalls von Siemens Technology Österreich entwickelten Simulations- und Demonstrationsumgebung BIFROST (siehe Infobox unten) wurde der Rollout von Software in großen Netzwerken simuliert. Die Demonstration der Auswirkungen eines Rollouts in realen Systemen ist damit einfach möglich und kann dem Endkunden leicht vermittelt werden.

Diese unterschiedlichen Simulationsebenen können gleichzeitig dazu verwendet werden, die entwickelten Algorithmen zu überprüfen und den Plan eines Rollouts für ein echtes cyber-physikalisches System unter simulierten dynamischen Bedingungen mit allen bekannten Störszenarien automatisiert zu testen. Neben der Validierung der Ansätze in der Simulation wurden im Rahmen des Forschungsprojekts Aspern Smart City Research (ASCR) in der Seestadt Aspern in Wien und in einem Versuchsaufbau in Deutschland Software­komponenten in realen Systemen ausgerollt. So konnten die in LarGo! entwickelten Ansätze auf ihre Praxistauglichkeit getestet werden.

Wir koppeln die Infrastruktur von Informations- und Kommunikationstechnologien mit virtuellen Verteilnetzen und simulieren unterschiedliche Szenarien.

Florian Kintzler, Technology, Siemens AG Österreich

Vielversprechende Ansätze und zukünftige Forschung

Damit der Rollout von Smart-Grid-Software möglichst reibungslos verläuft, müssen die Vorbedingungen, die der entwickelte LarGo!-Prototyp überwacht, und die Aktionen, die zum gewünschten Ziel führen sollen, geplant und in einen konsistenten Rollout-Plan verpackt werden. Hierzu wurden im Projekt unterschiedliche Ansätze evaluiert, um Wissen über das Gesamtsystem dazu zu nutzen, Fehler während der Softwareausrollung zu vermeiden und Störungen zu minimieren. Das Wissensmanagement mit Hilfe von Ontologien sowie das Optimieren von Eigenschaften des Rolloutprozesses, wie Minimierung der Auswirkungen auf die Spannungsqualität unter gleichzeitiger Minimierung der Rolloutzeit, sind vielversprechende Ansätze. Aufgrund der Komplexität des Problems bedarf es in diesem Bereich jedoch noch zukünftiger Forschung.

INFOBOX:

BIFROST ist ein Szenarienentwicklungs- und Simulationstool, das von Siemens Technology in Österreich in Kooperation mit einer Designagentur entwickelt wurde. Es eignet sich als virtuelles Testbed für Software-Prototypen und als Werkzeug zur Demonstration komplexer Zusammenhänge im Bereich smarter Infrastrukturen. Weitere Informationen sowie eine Testversion gibt es unter bifrost.siemens.com.

Über den Autor

Christian Lettner
Chefredakteur hi!tech