KI-Modelle für mehr Nachhaltigkeit
Forschungsprojekt: Datenmodelle mittels innovativer maschineller Lernmethoden für mehr Effizienz in Industrieanwendungen
Christian Lettner
Haben Sie auch schon einmal Bildausschnitte mit Bussen, Ampeln oder Palmen ausgewählt, um zu beweisen, dass Sie kein Roboter sind? Lautet die Antwort Ja, dann haben Sie – in der Sprache der Datenwissenschaft – gelabelt und eine Künstliche-Intelligenz-Anwendung bei der Bilderkennung trainiert. Modelle der Künstlichen Intelligenz (KI) brauchen gelabelte Daten, also Daten, die vereinfacht gesagt, eine klare Zuordnung haben.
KI-Anwendungen haben auch in der Industrie großes Potenzial, etwa bei der vorausschauenden Wartung oder der Qualitätskontrolle von Produkten. Das Problem dabei ist aber, dass die dafür notwendigen zugeordneten Daten nicht vorhanden sind. Einerseits wurden etwa Qualitätskontrollen von Produkten nicht in der Form gemacht und aufgezeichnet, dass sie als Dateninput für KI-Modelle taugen würden. Andererseits sind industrielle Prozesse wesentlich komplexer als zum Beispiel der Umstand, ob auf einem Bild eine Palme zu sehen ist oder nicht. Dazu kommt noch der Aspekt, wer industrielle Prozessdaten überhaupt labeln kann. Busse von Autos zu unterscheiden, um bei dem Beispiel vom Anfang zu bleiben, fällt einem Menschen in der Regel sehr leicht. Aber Abweichungen von Maschinenverhalten richtig einordnen, das kann nur ein begrenzter Personenkreis.
Mangel an historischen Daten überwinden
So groß also der Nutzen von KI-Unterstützung in industriellen Anwendungen wäre, so groß ist dort der Mangel an historischen Daten als Basis, um ein KI-Modell anhand von Beispielen trainieren zu können. Genau an diesem Punkt setzt das Forschungsprojekt Interactive an, das sich zum Ziel gesetzt hat, Modelle für maschinelles Lernen zu entwickeln, die mit wenigen Anfangsdaten, ergänzt um ein Training der KI durch Personen mit hohem Domainwissen – also eine Interaktion zwischen KI und menschlichen Expert:innen -, funktionieren. Das Projekt wird im Programm „Produktion der Zukunft“ vom Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie gefördert.
Konkret will Interactive anhand von zwei Anwendungsfeldern von Unternehmen Workflows und algorithmische Methoden entwerfen, die maschinelles Lernen in verteilten Edge-Computing-Umgebungen trotz fehlender oder unzureichender sogenannter Grundwahrheitsdaten ermöglichen. Siemens und AIT Austrian Institute of Technology haben sich daher zusammengetan, um die Entwicklungen aus dem Projekt an den Proof-of-concept-Anwendungsfällen der beiden Firmen Hauser und Stiwa validieren zu können.
Unsere Schwerpunkte im Projekt sind das User Interface, über das die Domain-Expert:innen mit der KI im Lern- und Trainingsprozess interagieren, sowie die Entwicklung der darunterliegenden Active-Learning-Komponenten.
Clemens Heistracher, AIT Austrian Institute of Technology
Use Cases: Kälteanlagen und Produktqualität
Das Kältetechnikunternehmen Hauser möchte KI für die vorausschauende Wartung und frühzeitige Schadenserkennung von großen Kälteanlagen für Logistikzentren, welche die Versorgung von Lebensmitteleinzelhandelsfilialen sicherstellen, einsetzen. Wie weiter oben allgemein beschrieben liegen auch im konkreten Fall der Firma Hauser jene Schwächen vor, die die Entwicklung eines KI-Modells, das die beschriebenen Anforderungen unterstützt, erschweren. Schaden- und Ausfallreports aus der Vergangenheit liegen nicht in der Form vor, wie sie als Input für das Datenmodell benötigt würden.
Hauser will auf Basis von Datenanwendungen ein Überwachungssystem zur vorausschauenden Erkennung von Anlagenausfällen bzw. Anlagenfehlverhalten von Kühlanlagen einsetzen. Sich anbahnende Störungen oder gar Warenschäden sollen somit frühzeitig durch das Personal mittels Datenfernüberwachung diagnostiziert werden können, um entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Die gewonnenen Erkenntnisse aus der Kooperation und der im Forschungsprojekt etablierte Workflow sollen vorangetrieben und ausgeweitet werden. Die Skalierbarkeit der Datenmodelle von Kältesystemen bietet in weiterer Folge auch eine mögliche Anwendung für Kältesysteme in Supermärkten.
Unsere Kälteanlagen für Lebensmittelverteilzentren sichern die Frische von Waren im Wert von rund 10 Millionen Euro und verbrauchen durch ihre Größe entsprechend viel Energie – pro Jahr rund 2,5 Mio. kWh. Durch die neue KI-Anwendung könnten bis zu sieben Prozent Energie eingespart werden. Über einen Zeitraum von zehn Jahren und für 20 Anlagen ergäbe sich eine CO2-Einsparung von rund 21.000 Tonnen – also etwa 750 PKW-Lebenszyklen.
Leopold Schöffl, Manager Sales Engineering, Hauser GmbH
Beim Use Case der Stiwa Group, eines weltweit tätigen Automationsspezialisten, steht die Vorhersage der Produktqualität im Mittelpunkt. In der Produktionssparte der Unternehmensgruppe werden Werkstücke auf verschiedenen Anlagen bearbeitet, etwa gefräst oder gestanzt. An den Maschinen werden bestimmte Produktionsparameter eingestellt und dann kommt es immer wieder vor, dass im Laufe der Zeit die Werkstücke nicht mehr in der gewünschten Qualität produziert werden. Die Qualitätsprüfung spielt daher eine wichtige Rolle.
Es ist nicht möglich, jedes Teil einer aufwendigen Kontrolle zu unterziehen. Die Qualitätsprüfungen beinhalten auch Schliff- und Kraft-Weg-Prüfungen, also zerstörerische Prüfungen. Ich kann nicht jedes Teil zerstören, um zu sehen, ob es auch tatsächlich der geforderten Kraft standhält. Hierfür müssen Stichproben ausreichen und daher kommt auch der Mangel an Daten.
Stefan Stricker, Data Scientist bei Stiwa Automation
Lösungsansatz: Active Learning
Der Lösungsansatz des Interactive-Projekts angesichts des Mangels an gelabelten Daten basiert auf Active Learning, einer Art des maschinellen Lernens. „Dabei beginnt die KI auf Basis von wenigen Ausgangsdaten diese zu labeln, um sie später zum Beispiel für die Vorhersage von Störungen verwenden zu können. Die KI bestimmt selbst die abgefragten Elemente, die einen hohen Informationsgewinn versprechen, um die Anzahl der Fragen möglichst gering zu halten“, sagt Jana Kemnitz von der Forschungsgruppe Distributed AI Systems bei Siemens Technology.
Eine ganz wichtige Rolle fällt hier sogenannten Domain-Expert:innen zu. Diese beurteilen die Ergebnisse des KI-Modells und dieses Feedback wird wiederum in das Datenmodell eingespielt – so lernt die KI kontinuierlich, sie wird trainiert. Diese Personen mit einem speziellen Domain-Know-how haben spezielle Kenntnisse über einen Prozess oder arbeiten schon lange Zeit an einer bestimmten Anlage und kennen daher ihr Verhalten sehr genau.
In Zukunft will Stiwa durch eine KI-Anwendung vorhersagen können, welche Charge nicht den Qualitätsansprüchen entspricht und daher zur Prüfung gelangen soll. Hier kommen wieder die Wissenden mit den Spezialkenntnissen, die mit der KI interagieren, ins Spiel. Die jeweilige Person mit diesem Know-how im Unternehmen prüft nach dem vorgeschriebenen Prozedere das Werkstück und gibt der KI Feedback, ob die Charge aufgrund vermuteter Mängel zu Recht zur Prüfung vorgeschlagen wurde oder nicht. Bei Stiwa erwartet man sich dadurch einen um die Hälfte verminderten Aufwand für die Qualitätskontrolle der hergestellten Produkte und eine Reduktion der durch die Prüfungen verursachten Anlagenstillstände. Langfristig will man mit dieser Strategie vor allem Ressourcen einsparen, indem unnötige Ausschussware vermieden wird. Erste KI-Anwendungen bei Nacharbeitsplätzen bestätigen die Wirkung bereits.
Konkreter Output
Das Ergebnis des Forschungsprojekts werden modulare Bausteine aus Software sein und Schnittstellen, über die die sogenannten „building blocks“ miteinander und mit anderen Systemkomponenten verbunden sind. Ein wichtiger Inhalt des Forschungsprojekts ist die Definition dieser Schnittstellen. Entscheidende Komponenten dabei sind die Maschinensteuerung und die Kommunikation des „machine learning models“ mit derselben. Während Siemens sich im Projekt auf das Gesamtsystem und die Architektur der Edge-Computing-Komponenten konzentriert, sind die Schwerpunkte des Projektpartners AIT das User Interface, über das die Domain-Expert:innen mit der KI im Lern- und Trainingsprozess interagieren, sowie die Entwicklung der darunterliegenden Active-Learning-Komponenten.
Wir formen Bausteine, mit denen Unternehmen später ihr individuelles System zusammenstellen können. Zentral im Forschungsprojekt ist für uns, an den Konzepten zu arbeiten, die ihnen zugrunde liegen. Langfristig möchten wir mit Hilfe dieser wiederverwendbaren building blocks die Eintrittsbarriere für KI-Projekte senken, die Entwicklung von KI-Modellen beschleunigen und unsere Kunden bei der Skalierbarkeit ihrer KI-Modelle unterstützen.
Daniel Schall, Leiter der Forschungsgruppe Distributed AI Systems bei Siemens Technology
Eine weitere Besonderheit des innovativen geplanten Datenmodells ist die Verteilung der KI-Algorithmen über Edge Computing – dieses ermöglicht eine sichere und effiziente Datenverarbeitung direkt an der Datenquelle. Hier kommt mit Kollaborativem Lernen ein weiterer Aspekt des Forschungsprojekts ins Spiel. Diese Art des maschinellen Lernens, auch federated learning genannt, ermöglicht es, dass mehrere Unternehmen ein gemeinsames KI-Modell über Edge Computing trainieren, ohne dass die Daten ausgetauscht werden. Auf diese Weise kann Themen wie Datenschutz, Datensicherheit, Datenzugriffsrechte und Zugriff auf heterogene Daten begegnet werden.
Ein wichtiger Innovationsaspekt ist die Schaffung eines Gesamtsystems. Es gibt schon alle Teile als einzelne Lösungen: die verschiedenen Arten von Machine Learning, Retrofitting von Sensoren, Edge Computing, Datenbanken und so weiter. Wir wollen daraus eine Komplettlösung bauen – end to end: von der Maschine über das KI-Modell bis zu Visualisierung und Eingriffsmöglichkeiten für Kunden. Wir arbeiten im Projekt in Richtung Standardisierung und Out-of-the-box-Lösung.
Jana Kemnitz, Forschungsgruppe Distributed AI Systems bei Siemens Technology