Pakete von gepressten Plastikflaschen stehen vor einer Baumreihe © Brantner
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Blueprint für effizientere Abfallsortierung

Eine neue Roboticslösung in Kombination mit Künstlicher Intelligenz sorgt für einen automatisierten und flexiblen Sortierprozess in der Recyclingindustrie....

Nachhaltigkeit

25.09.2023

Lesezeit 10 Min

Christian Lettner

Recycling ist ein wichtiges Element der nachhaltigen Kreislaufwirtschaft. Daher wird der Effizienzgrad des zirkularen Wirtschaftsmodells auch wesentlich von der Qualität der Recyclingprozesse bestimmt. Vereinfacht gesagt tragen genauere Sortiermethoden beim Recycling zu mehr Nachhaltigkeit bei. In diesem Sinne hat Siemens gemeinsam mit dem international tätigen Entsorgungsunternehmen Brantner aus Krems eine Lösung entwickelt, die mittels KI einen effizienteren und treffsicheren, weil automatisierten, Sortierprozess ermöglicht.

“Recycling wird in Zukunft immer wichtiger werden. Die Rohstoffe auf unserer Welt sind begrenzt und wir müssen gut damit haushalten. Die in Zusammenarbeit mit Siemens entstandene Lösung setzen wir bei der automatisierten Sortierung von Kunststoff ein, um gezielt Objekte auszusortieren – bevor der Müll verheizt oder zu Ersatzbrennstoffen weiterverarbeitet wird”, erklärt Christoph Pasching, Head of Digital Solutions & Business Development bei Brantner. “Dabei läuft unser eigenes KI-Modell DeepSort auf der Basis des Siemens-Systems. So können Objekte in Echtzeit erkannt und notwendige Maßnahmen je nach Prozess gesetzt werden. Auch in unserer Kunststoffsortieranlage in Wölbling verwenden wir diese Technik, um die Sortiertiefe unserer Anlage zu messen. Die künstliche Intelligenz hilft uns hier dabei, dass wir einen Roboter ansteuern können, der gezielt etwa PET-Flaschen aussortiert”, so Pasching weiter.

„Die in Zusammenarbeit mit Siemens entstandene Lösung setzen wir bei der automatisierten Sortierung von Kunststoff ein, um gezielt Objekte auszusortieren.“

Christoph Pasching, Head of Digital Solutions & Business Development, Brantner (Foto: Brantner)


“Die Entwicklung unseres Systems, das mit maßgeschneiderten KI-Lösungen arbeitet, markiert einen bedeutenden Meilenstein in der Abfallwirtschaft und im Recycling. Unsere Kunden in diesen Bereichen sind in Zukunft in der Lage, schnell und ohne Programmierarbeit den Sortierprozess zu automatisieren, indem sie ein KI-Modell auf Basis ihres individuellen Stoffstrom anlernen”, sagt Daniel Schall, Leiter der Forschungsgruppe Distributed AI Systems bei Siemens Technology in Österreich.

„Die Entwicklung unseres Systems, das mit maßgeschneiderten KI-Lösungen arbeitet, markiert einen bedeutenden Meilenstein in der Abfallwirtschaft und im Recycling.“

Daniel Schall, Leiter der Forschungsgruppe Distributed AI Systems, Siemens Technology Österreich

Modulares System mit Lifecycle-Plattform

Wie sieht nun diese von Brantner und Siemens gemeinsam entwickelte Lösung aus? Das modulare System setzt sich aus drei Komponenten zusammen: einem Delta-Picker-Roboter, also einem Roboter, der mittels eines Greifers Dinge aufheben kann, einer Lifecycle-Plattform für KI-Modelle und einer Edge-Box, also ein SIMATIC-Industrie-PC von Siemens mit einem eigenen Betriebssystem, der das Gehirn der KI-Lösung darstellt.

Der Demoaufbau der skalierbaren Sortierlösung auf Basis des Blueprint-Systems bei Siemens in Prag.

“Die wichtigste Entwicklung unseres Blueprint-Systems ist die Lifecycle-Plattform. Diese kann Machine Learning Operations, kurz ML Ops, für Computer-Vision- Modelle ausführen”, erklärt Benedikt Häcker, Machine-Learning-Engineer bei Siemens. MLOps für Computer Vision, also maschinelles Sehen, integriert bewährte Softwareentwicklungspraktiken in den gesamten Lebenszyklus von visuellen Machine-Learning-Modellen: die strukturierte Verwaltung von Bilddaten, automatisiertes Modelltraining und -deployment auf Industrial-Edge-Anwendungen sowie die kontinuierliche Überwachung der Modellleistung.

In der Lifecycle-Plattform werde Daten gesammelt und gelabelt sowie die passenden Modelle ausgewählt, trainiert, validiert und wieder neu trainiert. Damit können typische Herausforderungen im Recyclingumfeld wie sich ändernden Müllströme oder neu auftretende rechtliche Anforderungen bewältigt werden. “Der Plattform können flexibel neue Gegenstände, die im Stoffstrom erkannt werden sollen, eintrainiert werden und das System beziehungsweise das KI-Modell passen sich dementsprechend automatisch an, ohne neuen Programmieraufwand”, erläutert Schall.

Templates beschleunigen Entwicklung von AI-Anwendungen

In dem Sortiersystem zum Einsatz kommen auch AI-Templates. „Das sind konfigurierbare Lösungspakete, die man auf einen Datensatz anwenden und damit ein Training ausführen kann, um etwas zu detektieren. Gleichzeitig enthalten die Templates den ganzen Code, um sie letztendlich auch am Shopfloor auf dem Edge Device ausführen und prediction tasks lösen zu können. Wir bezeichnen die AI-Modelle auch als Pipeline, weil vor und nach dem Anwenden des Modelles in Training oder Prediction typischerweise noch klassische Bearbeitungsschritte der Bilder und Detektionen vorgenommen werden“, beschreibt Häcker die AI-Templates, die aus verschiedenen AI-Modellen bestehen.  

Die AI-Templates beschleunigen die Entwicklung von AI-Anwendungen. Sie bieten grundlegende Strukturen, Algorithmen und Konfigurationen für häufige Anwendungsfälle. Ein AI-Template für die Müllsortierung beispielsweise deckt spezifische Bilderkennung und Klassifizierungsfunktionen ab, um verschiedene Arten von Abfällen zu identifizieren. Es umfasst Schritte wie Datenaufbereitung, Modelltraining, Validierung und Deployment. Solche Templates ermöglichen es Entwickelnden, aufbauend auf bewährten Ansätzen, KI-Lösungen etwa in der Abfallindustrie schneller zu erstellen.

Sobald ein Modell einsatzbereit ist, kann es mit einem Klick auf die Edge-Box übertragen werden, um dort in Echtzeit den Stoffstrom einer Abfallsortieranlage zu überwachen. Die Ergebnisse werden an den Delta-Picker übermittelt, welcher in der Lage ist, präzise und effiziente Greifbewegungen durchzuführen, um die zu sortierenden Materialien gezielt auszuwählen und auszusortieren.

Die Edge-Box, die als Gehirn des Blueprint-Systems fungiert, ist mit hochmodernen Kameras und Nah-Infrarot-Sensoren (NIR) ausgestattet, die eine präzise Erfassung und Identifikation verschiedener Materialien ermöglichen. Die Daten werden gesammelt und an die Lifecycle-Plattform übermittelt, wo die KI-Modelle trainiert und optimiert werden. Die Edge-Box ist als SIMATIC-Industrie-PC von Siemens auch für raue Umgebungsbedingungen, wie sie in Müllsortieranlagen vorherrschen, geeignet.

“Wir sind zuversichtlich, dass unsere richtungsweisende Technologie die Grundlage für eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft schafft. Durch den Einsatz von KI und Robotics werden nicht nur die Sortierprozesse beim Recycling optimiert, sondern auch wichtige Schritte in Richtung einer nachhaltigen Zukunft gemacht, in der wertvolle Ressourcen erhalten bleiben und die Umwelt geschützt wird”, sagt Schall. “Dieser Fortschritt ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, da er die Belastung für das Personal in Müllsortieranlagen erheblich reduziert. Durch den Einsatz des Sortiersystems entfallen die physisch anstrengenden und gesundheitsschädlichen Aspekte der manuellen Sortierung, stattdessen kann das Personal in weniger körperlich belastende Positionen umgeschult werden”, fährt Schall weiter fort.

Lukas Gerhold, Leiter des Siemens SIMATIC Application Centers, fügt hinzu: „Enorm wichtig war uns auch, dass wir das Automatisierungskonzept („Blueprint“) so standardisiert und offen wie möglich halten. Die Kunden bekommen nicht nur eine KI, sie sollen in erster Linie eine gesamte Lösungskonfiguration bei uns kaufen können, bestehend aus der qualitätsgesicherten Zusammenstellung der Mechanik, der Antriebe, der Steuerung, des Edge-Systems sowie des fertigen TIA-Portal-Projekts und den offenen Schnittstellen zur KI. Das Einzige, was der Kunde noch machen muss, ist die Anlage zusammenzubauen und die KI zu laden oder, falls es für ein spezifisches Problem noch keine KI gibt, sie für das jeweilige Problem zu trainieren und dann zu laden. Ähnlich wie ein Legobausatz – nur mit KI.“

„Die Kunden bekommen nicht nur eine KI, sie sollen in erster Linie eine gesamte Lösungskonfiguration bei uns kaufen können.“

Lukas Gerhold, Leiter Siemens SIMATIC Application Center

Blueprint in der Siemens City live erleben

Siemens bietet allen Interessierten aus der Industrie an, das Sortiersystem in Form einer mobilen Roboterzelle in der Siemens City in Wien live zu erleben. Sein Einsatz ist übrigens nicht auf das Gebiet Recycling beschränkt und auch das Sortieren ist nicht die einzige Fähigkeit. Die KI-Lösung kann auch für die Sortierung anderer Gegenstände, etwa Backwaren, oder für das Stapeln von Holzplatten eingesetzt werden. Die Fähigkeit des Systems zur Klassifizierung von Objekten kann etwa auch für die Qualitätskontrolle von Holz genutzt werden.

Roboterzelle in der Siemens City in Wien

Die Sortierleistung mittels Künstlicher Intelligenz kann im DigiLab in der Siemens City demonstriert werden.

Die Forschungsgruppe Distributed AI Systems arbeitet intensiv daran, die Möglichkeiten der Kamerabilder und Nahes-Infrarot(NIR)-Daten für die Klassifikation von Stoffströmen weiter zu erforschen. Gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Pro2Future GmbH und der Montanuniversität Leoben wird in einem Förderprojekt der FFG (Forschungsförderungsgesellschaft) eng zusammengearbeitet, um die Grenzen der Technologie zu erweitern und innovative Lösungen für die Abfallwirtschaft zu entwickeln. Dabei geht es vor allem darum, den Aufwand des Labelns zu reduzieren und zu erforschen, wie KI-Modelle zusätzlich zu Bildern mit NIR-Daten “gefüttert” werden können. Die Pilotierung dieser Ansätze erfolgt im Digital Waste Research Lab der Montanuniversität Leoben.

(Titelfoto: Brantner)

Über den Autor

Christian Lettner
Chefredakteur hi!tech