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Business-Trip ins Metaverse

Treffen sich eine Technikerin und ein Techniker im Industrial Metaverse, um einen Anlagenstillstand zu beheben? Klingt utopischer, als es ist.

Forschung & Entwicklung

12.07.2023

Lesezeit 6 Min

Michael Heiss

Wenn eine wichtige Anlage stehen bleibt und die Produktion zum Stillstand kommt, dann geht es um Sekunden. Wenn das Technikpersonal vor Ort die Anlage nicht selbst wieder zum Laufen bringt, dann kann ein Anruf bei einer passenden wissenden Person helfen. Was aber, wenn die Herausforderung zu komplex ist, um telefonisch oder mit Fernzugriff helfen zu können, und die Produktionsanlage mehrere Flugstunden entfernt ist?

Heute nutzen wir ein Webkonferenz Meeting, um wenigstens unseren Bildschirm teilen zu können. Warum sollten wir uns nicht bald im Siemens Industrial Metaverse treffen, um den digitalen Zwilling der Fabrik zu „teilen“? So können mehrere Personen gleichzeitig gemeinsam das Anlagenverhalten in Echtzeit erleben, obwohl sie beliebig weit entfernt sind. Gemeinsam kann man sich eine Lösungsstrategie überlegen und diese am Digitalen Zwilling testen, bevor sie an der realen Anlage umgesetzt wird. Wenn alles klappt, dann läuft die Anlage ein paar Sekunden später wieder.

Virtuelle und reale Welt zusammenführen

Wer jetzt denkt, dass das naive Träumereien sind, der soll einmal Professor Friedrich Bleicher am TEC-Lab der TU Wien besuchen. Dort steht ein Digitaler Zwilling einer EMCO-CNC-Fräsmaschine MAXXMILL 500, deren reales Gegenstück sich 15 km entfernt in der Pilotfabrik der TU Wien in Aspern Seestadt befindet. Dieser Digitale Zwilling hat es in sich: Hier hört man sogar die Bearbeitungsgeräusche der Maschine. Auch das Fliegen der Späne, die beim Fräsen entstehen, kann man sehen. Alle Bedienelemente der Siemens Steuerung SINUMERIK ONE liegen wie bei der realen Maschine vor, alle Komponenten der CNC-Fräsmaschine werden fotorealistisch dargestellt und man kann virtuell in Echtzeit(!) auch im Maschinenraum beliebig nahe an das Geschehen „heranfliegen“, was bei der realen Maschine durch die Sicherheitstüre verhindert wird.

Aber das Wichtigste: Derselbe Programmiercode, der auf der realen Maschine läuft, läuft auch auf der virtuellen Maschine am Digitalen Zwilling der Siemens SINUMERIK ONE, genannt Create My Virtual Machine. Das bedeutet, dass die virtuelle CNC-Fräsmaschine sich genauso verhält wie die reale und sogar alle Fehlermeldungen und Signale identisch sind.

Die virtuelle Maschine im Industrial Metaverse ist von der realen kaum zu unterscheiden: man hört sogar Geräusche. Beide werden von Siemens SINUMERIK ONE gesteuert.


Und was ist der Unterschied zu jenen Digitalen Zwillingen, die wir schon seit Jahren bei CNC-Maschinen kennen? Der neue Digitale Zwilling deckt fast alle Aspekte der realen Maschine ab und nicht nur die Basisbewegungen der Maschine, die zumindest das Vermeiden von Kollisionen ermöglichen. Professor Bleicher: „Wir wollen die virtuelle und die reale Welt so nahe wie möglich aneinander heranführen, um darauf aufbauend die Produktion optimieren zu können.“

So macht ein virtuelles Treffen im Industrial Metaverse Sinn. Für die Technikerin und den Techniker ist das dann nahezu so, als ob sie sich bei der realen Maschine getroffen hätten.

In einem echten Industrial Metaverse steht allerdings nicht nur eine Maschine, sondern die ganze Fabrik. Seit Jahren bemüht sich die Industrie, die Datendurchgängigkeit in der realen Fabrik umzusetzen. Datendurchgängigkeit bedeutet, dass Maschinen und Softwaretools die notwendigen Daten an die nachfolgende Instanz, sei es Maschine oder Software, weitergeben – also: nie wieder Daten ausdrucken und beim nächsten Tool händisch neu eingeben. Für das Industrial Metaverse muss diese Datendurchgängigkeit jetzt auch beim Digitalen Zwilling umgesetzt werden. Die Technologien sind bereit dazu – man muss es nur noch tun.

Professor Bleicher zeigt an seinem Institut für Fertigungstechnik und Photonische Technologien der TU Wien, wie seine Mitarbeitenden in Kooperation mit der Firma Module Works und Siemens auf einem handelsüblichen, gut ausgestatteten PC so einen Digitalen Zwilling der nächsten Generation umgesetzt haben. An der TU Wien wird dieser Digitale Zwilling bereits in der Lehre bei Studierenden eingesetzt. Manche der Werkzeugmaschinen kosten mehrere hunderttausend Euro. Eine minimale Fehlbedienung kann sehr hohe Kosten verursachen. Am Digitalen Zwilling können die Studierenden angstfrei ihre Kreativität frei einfalten. Erst wenn sie dort Erfahrung aufgebaut haben, geht es zur realen Maschine.

Die nächste Dienstreise ins Industrial Metaverse ist keine Utopie mehr. Wir werden sie bald so selbstverständlich nutzen wie heute ein Web-Meeting.

Bevor Studierende an die echte Maschine gehen, gibt es die Lagebesprechung beim digitalen Zwilling. Wird so ein Treffen zukünftig im Industrial Metaverse stattfinden? (Fotos: Siemens)

Potenzial des Metaverse nutzen

Siemens und MIT Technology Review haben eine gemeinsame Forschungsarbeit begonnen, um die Entwicklung und die Möglichkeiten des sich schnell entwickelnden industriellen Metaversums zu untersuchen. Ein umfassender Bericht (erreichbar über den QR-Code) über dessen Potenzial ist das Ergebnis dieser Zusammenarbeit. Er fasst die neuesten Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet zusammen und enthält Interviews mit führenden Personen aus den Bereichen Technologie, Branchenanalysen, Führungskräfte und Forschung.

Über den Autor

Michael Heiss
Michael Heiss ist Principal Consultant für Digital Enterprise bei der Siemens AG Österreich und Honorarprofessor für Innovations- und Technologiemanagement an der TU-Wien.