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Digitaler Zwilling in der Werkzeugmaschinenindustrie

Die Werkzeugmaschinenindustrie kann auf vielen Ebenen von den Vorteilen des Digitalen Zwillings profitieren.

Digitale Transformation

12.09.2023

Lesezeit 6 Min

Siemens

Unternehmen der Werkzeugmaschinenindustrie sehen sich permanent mit den Herausforderungen zur Optimierung der zerspanenden Fertigung konfrontiert. Der Schlüssel zur Bewältigung dieser Herausforderungen liegt – aufbauend auf der Automatisierung – in der Digitalisierung und der damit verbundenen Datentransparenz. Nur ein Digital Enterprise ist in der Lage, die reale mit der digitalen Welt zu verbinden und anhand smarter Software-Tools die richtigen Entscheidungen zu treffen, um flexibel, schnell und nachhaltig zu produzieren. Ein Schlüsselelement für die Digitale Transformation ist der Digitale Zwilling. Er ermöglicht es, Arbeitsprozesse vollständig virtuell zu simulieren und zu testen. Das bietet enormes Potenzial, um das Engineering von Maschinen und die Automatisierung der Produktion zu erleichtern.

Traditionell ist der Maschinenbau durch die Abhängigkeit von Hardware-Komponenten und sequentiellen Arbeitsabläufen geprägt. Fehler im Engineering oder unerwartete Fehler bei der Inbetriebnahme beim Kunden können hohe Kosten und Lieferverzögerungen verursachen. Die Maschinenentwicklung mit virtueller Inbetriebnahme ermöglicht dagegen eine zunehmende Parallelisierung der Arbeitsschritte. Mittels Simulation können Fehler frühzeitig im Produktlebenszyklus erkannt werden.

Höhere Produktivität im Engineering

Das TIA(Totally Integrated Automation)-Portal von Siemens bildet einen zentralen Bestandteil des durchgängig digitalen Engineering-Prozesses. Die Daten aus dem TIA-Portal wiederum sind die Basis für den Digitalen Zwilling. Create MyVirtual Machine – der Digitale Zwilling der Siemens-Steuerung Sinumerik ONE – ermöglicht es, das Engineering der Maschine bereits vor der Verfügbarkeit von realen Prototypen durchzuführen. „Beginnend beim virtuellen Testrack über die virtuelle Bearbeitung bis hin zum Closed-Loop-Engineering bieten wir hier ein umfassendes Paket, mit dem Aufgaben von der realen in die virtuelle Welt vorverlagert werden und der Engineering-Prozess beim Maschinenhersteller optimiert wird“, erklärt Martin Wolf, Experte für Digitalisierung im Bereich Machine Tool Systems bei Siemens Österreich.

Das digitale Abbild der Steuerung des Maschinenverhaltens sowie der Kinematik bietet die Möglichkeit, die Projektierungen aus dem TIA-Portal virtuell zu testen und in Betrieb zu nehmen. Prozessschritte, die in der Vergangenheit Schritt für Schritt nacheinander abgearbeitet wurden, können mit dem Digitalen Zwilling parallel erfolgen.

„Maschinenbetreiber wollen vor dem Kauf oft eine Vorführung der Maschine“, weiß Wolf aus der Praxis und erklärt weiter: „In einem virtuellen Showroom kann der Maschinenhersteller Konzepte und Ausprägungen frühzeitig mit dem potenziellen Käufer anhand des Digitalen Zwillings diskutieren. Der Maschinenbetreiber wiederum kann seine Kaufentscheidung absichern. Durch Vorabnahmetests mit dem Digitalen Zwilling, kann die Projektlaufzeit somit erheblich verkürzt werden.“

Digitaler Zwilling für die CNC-Arbeitsvorbereitung

Auch während des Betriebs der Maschine verbessert der Digitale Zwilling Prozesse – sei es bei der Bearbeitung oder als Schutz vor Kollisionen in Echtzeit. „Mit der Anwendung Run MyVirtual Machine, dem Digitalen Zwilling der Bearbeitung, kann der Maschinenbetreiber ein Werkstück am PC so programmieren, als ob er an der Maschine stehen würde. Auch CAM(Computer Aided Manufacturing)-generierte Programme können eingelesen und getestet werden“, sagt Wolf. Digitale Zwillinge verschiedener Maschinen können an einem PC hinterlegt werden. Programme unterschiedlicher Maschinen können somit an einem einzigen Arbeitsplatz erstellt und bearbeitet werden. Vom PC werden die NC(Numerical Control)-Programme dann direkt lauffähig an die reale Maschine übertragen. Das kann die Einrichtezeit an der realen Maschine um bis zu 20 % verkürzen.

Die virtuelle CNC(Computerized Numerical Control)-Steuerung entspricht sowohl in der Funktionalität als auch in der Bedienung eins zu eins der realen CNC-Steuerung an der Maschine. Da sie Bestandteil des digitalen Maschinenzwillings ist, entsprechen die in der Virtualität getroffenen Vorbereitungen exakt denen, die sonst nach Lieferung und Abnahme der realen Maschine fällig werden. Damit wird die Auslastung der Werkzeugmaschinen optimiert. Unproduktive Zeiten an der Maschine können auf ein Minimum reduziert und konsequent in die Arbeitsvorbereitung verlagert werden. Der dadurch verbesserte Nutzungsgrad der Maschinen verbessert zugleich die Energiebilanz.

Vollständiger Schutz der Maschine vor Bedienungsfehlern

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Schutz vor Kollisionen in Echtzeit. Die Beschädigung einer Maschine durch eine Kollision gefährdet eine termingerechte Fertigstellung von Fertigungsaufträgen. Erkennt man Kollisionen vorab in einer virtuellen Umgebung, spart das Kosten und Zeit. Hier kommt die Echtzeit-Kollisionsüberwachung „Protect MyMachine/3D Twin“, die über die Industrial-Edge-for-Machine-Tools-Plattform von Siemens verfügbar ist, zum Einsatz. Die App stellt den Bearbeitungsprozess und die Maschinenbewegungen mittels 3D-Simulation visuell dar.

„Damit lassen sich Maschinen mit höchster Verfügbarkeit realisieren, da Fehler nicht zu teuren Maschinenausfällen führen. Die Edge-App Protect MyMachine/3D Twin ermöglicht die Erstellung eines 3D-Modells der Werkzeugkomponenten, Vorrichtungen und Werkstücke sowie deren Positionen. Die App blickt dabei sozusagen in die Zukunft, denn es werden nicht nur die aktuellen Positionen aller Bauteile, sondern auch deren zukünftige Position berücksichtigt. Die Vorschau spiegelt die 800 ms Vorlaufpositionen wider, d.h. es werden jene Positionen visualisiert, die die Maschine bald erreichen wird“, erklärt Experte Wolf.

Der Digitale Zwilling als Schulungsumgebung

Auch für das Offline-Training von CNC und Maschine bietet der Digitale Zwilling ein ideales Werkzeug. Virtuelle Schulungen sind mit dem gleichen Look-and-Feel wie an der realen Maschine möglich. Das erlaubt ein zeit- und ortsunabhängiges Training beziehungsweise bietet eine sichere Trainingsumgebung zum Selbstlernen. Beim Training neuer Mitarbeitender können die Programmierungen sofort geprüft und Fehler angezeigt werden, ohne dass reale Werkstücke oder Maschinen Schaden nehmen. Während des Trainings am Digitalen Zwilling bleibt die reale Maschine ohne Unterbrechungen produktiv.

„Durch ihren Digitalen Zwilling ist Sinumerik ONE das Schlüsselelement für die Digitale Transformation und sorgt für effizientere Arbeitsabläufe im Engineering und in der CNC-Fertigung. Sie trägt auch unmittelbar zu mehr Nachhaltigkeit bei, indem durch remote Maschinenverwaltung Reisen vermieden werden, der Reparatur- und Materialbedarf durch erhöhten Maschinenschutz reduziert wird und der Energieverbrauch durch richtig dimensionierte Maschinen und optimierte Antriebe sinkt“, so das Fazit von Wolf.

Dieser Artikel ist auch im Magazin Maschinenmarkt erschienen:
https://www.technik-medien.at/aktuelles/2023/09/13/digitaler-zwilling-als-schluessel/