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Multifactory: Produktionsplanung über Firmengrenzen hinweg

Fabriken von unterschiedlichen Unternehmen sollen zu einem gemeinsamen Ökosystem werden.

Forschung & Entwicklung

18.05.2021

Lesezeit 6 Min

Michael Heiss

Forschungsprojekt mit den österreichischen Pilotfabriken

Die drei Pilotfabriken in Wien, Graz und Linz produzieren gemeinsam ein Getriebe für einen Roboterarm. Die in dem Projekt entwickelte App findet jenen Weg, mit dem das Getriebe unter Berücksichtigung des geringsten CO2-Fußabdrucks hergestellt werden kann: Die Spritzgießform wird in Wien gefertigt. Diese Form wird dann in Linz in der LIT-Factory dazu verwendet, mit einer Spritzgießmaschine die Kunststoffkappe des Getriebes zu produzieren. Alle anderen Teile werden in der smartfactory@tugraz gefertigt und dort auch gemeinsam mit der Kunststoffkappe zum fertigen Getriebe zusammengebaut.

Es ist nichts Neues, dass global tätige Unternehmen Produktionsstätten an unterschiedlichen Standorten betreiben und Interesse haben, die Produktion über alle Standorte hinweg zu optimieren. Das aktuelle Forschungsprojekt an den drei österreichischen Pilotfabriken in Wien, Graz und Linz geht aber noch einen Schritt weiter: Wie kann man Fabriken von unterschiedlichen Unternehmen zu einem gemeinsamen Ökosystem zusammenschalten? Also digital so verbinden, dass sie gemeinsam wie ein größeres Unternehmen agieren. Unternehmen, die unterschiedliche Softwaresysteme verwenden, Unternehmen, die unterschiedlich groß sind. So können auch kleine und mittlere Unternehmen Teil eines großen Ökosystems sein.

Man nennt das den Long-Tail-Effekt: Die Buchungsplattform Airbnb beispielsweise macht als Ökosystem mehr Umsatz als die größte Hotelkette der Welt. Wenn sich die Kleinen digital organisieren, können viele Kleine zusammen gemeinsam am Markt mehr Bedeutung erlangen als die einzelnen Großen.

Grundidee: Skills mit Bedarf abgleichen

Wie könnte das funktionieren? Die Grundidee ist einfach: Sie basiert auf dem Wissen der angebotenen und der nachgefragten Produktionsskills. Ganz ähnlich wie bei Airbnb: Ich muss die Ausstattung der vermieteten Wohnung kennen und kann diese dann mit den Anforderungen der Gäste abgleichen. In unserem Fall: Wenn ich zum Herstellen eines Produktes fräsen muss, dann benötige ich natürlich auch eine Fabrik, die eine Fräse zur Verfügung hat. Wenn ich hingegen nur Bohren benötige, dann reicht mir eine Fabrik, die eine Bohrmaschine hat. Diese Produktionsfähigkeiten nennt man Skills.

Die Aufgabe klingt zunächst einfach: Ich habe eine Liste von allen Skills der angeschlossenen Fabriken. Wenn dann ein Kunde ein Produkt produziert haben möchte, ermittle ich, welche Produktionsskills dafür erforderlich sind. Danach suche ich mir jene Fabriken aus der Liste heraus, die zumindest einige der erforderlichen Skills beitragen können, wenn schon keine der Fabriken es alleine produzieren kann. Am Schluss muss ich nur noch die „Skills-Puzzlesteine“ von den verschiedenen Fabriken zusammensetzen, um alle erforderlichen Skills zur Verfügung zu haben und produzieren zu können.

Im Detail ist es dann doch etwas aufwendiger. „Es reicht ja nicht, irgendeine Fräsmaschine zur Verfügung zu haben, sondern jede Maschine hat auch gewisse Einschränkungen, wie etwa die maximale Bauteilgröße oder die verfügbaren Werkzeuge. Ich kann keine 1-mm-Bohrung machen, wenn ich nur einen 8-mm-Bohrer im Werkzeugschrank habe“, erklärt Stefan Wallner von der Forschungseinheit Technology bei Siemens Österreich, der Projektleiter dieses Forschungsprojektes ist. Zusätzlich müssen auch die verfügbaren Skills der Mitarbeiter und die Transportwege berücksichtigt werden. Dazu kommt, dass ein Produkt nicht nur aus einem Teil, sondern meist aus sehr vielen Teilen besteht und jeder dieser Bestandteile produziert werden muss oder einfache Teile wie Schrauben auf Lager sein müssen. Am Schluss muss dann noch das Produkt mit geeigneter Maschinen- oder Roboterunterstützung aus den Einzelteilen zusammengebaut werden.

In den drei österreichischen Pilotfabriken wird gemeinsam gezeigt, wie dieser Skills-Abgleich funktioniert. Das Szenario sieht folgendermaßen aus: In der smartfactory@tugraz soll ein Hightech-Getriebe aus Metall hergestellt werden. Die Schutzkappe dieses Getriebes wird jedoch aus Kunststoff gefertigt. Für die Kappe benötigt man also eine Spritzgießmaschine. Diese Maschine gibt es in Graz nicht, sondern in der LIT-Factory an der Johannes Kepler Universität in Linz. Um die Kappe mittels Spritzgießen zu fertigen, benötigt man eine Spritzgießform, die maßgeschneidert – oder korrekter ausgedrückt  maßgefräst  – dafür produziert werden muss. Und dazu benötigt man eine CNC-Fräsmaschine, wie sie in der Pilotfabrik Industrie 4.0 in Wien zur Verfügung steht.


Optimierungsalgorithmus in Aktion

Zur Realisierung dieses Szenarios sind die Pilotfabriken über die Siemens-Cloud-Lösung MindSphere verbunden und die Skills von allen drei Fabriken sind in diesem System bekannt. Die zur Getriebeproduktion erforderlichen Skills sind dem System ebenfalls bekannt. „Nun starten wir die App und diese App ermittelt mit einem anspruchsvollen Optimierungsalgorithmus von allen Möglichkeiten jene Lösung, die den geringsten CO2-Fußabdruck hat. Das ist ähnlich komplex, wie wenn ein Navi unter tausenden möglichen Wegen jene Lösung findet, mit der man am schnellsten – oder mit dem geringsten CO2-Fußabdruck – das Ziel erreicht“, erklärt Stefan Wallner bei der Live-Vorführung, und Wallner weiter: „Ob die CO2-Emissionen minimiert werden sollen oder ob die Verringerung von Produktionskosten oder Produktionszeit das Ziel sein soll, das kann der Kunde je nach Bedarf wählen. Für den Optimierungsalgorithmus macht es keinen Unterschied, in welchem Bereich er die beste Lösung ausfindig machen soll“. Das Ergebnis ist ein Lösungsvorschlag, der zeigt, welcher Produktionsschritt am besten mit welcher Maschine in welcher Fabrik durchgeführt werden soll, inklusive aller manuellen Arbeitsschritte und Transporttätigkeiten innerhalb der Fabrik und zwischen den Fabriken (siehe Infobox).

Mit diesem Forschungsshowcase ist die technologische Basis geschaffen, um in Zukunft solche Produktionsökosysteme aufzubauen, die über die eigenen Unternehmensgrenzen hinweg eine Optimierung der gesamten Produktions- wertschöpfungskette ermöglichen.

Ökosysteme werden in Zukunft noch wichtiger: Unterschiedliche Unternehmen schließen sich vermehrt virtuell zusammen. Auch kleine und mittlere Unternehmen haben dadurch die Chance, mit ihrer Kompetenz eingebunden zu sein. Denn jedes Unternehmen bringt das ein, was es am besten bzw. am wettbewerbsfähigsten kann. So entstehen Ökosysteme, die allen nutzen – in unserem Fall auch der Umwelt.

Über den Autor

Michael Heiss
Michael Heiss ist Principal Consultant für Digital Enterprise bei der Siemens AG Österreich und Honorarprofessor für Innovations- und Technologiemanagement an der TU-Wien.