Originell virtuell
Ein erster Testlauf bei Siemens Österreich für virtuelle Werksabnahmetests verlief vielversprechend.
Christian Lettner
Vielfach ist dieser Tage zu hören, dass die Corona-Krise die Digitalisierung noch stärker vorantreiben wird, als das schon bisher der Fall war. Doch auch schon in der Vor-Corona-Zeit haben Digitalisierungsthemen bereits einen hohen Stellenwert eingenommen. Das trifft auch auf die Einheit von Siemens Österreich zu, die sich mit Energieautomatisierung beschäftigt und dafür Schaltschränke und Leittechnik für industrielle Anwendungen weltweit liefert.
Speziell mit dem Thema Digital Services setzt sich dieses Team in der Siemensstraße in Wien bereits seit über zwei Jahren intensiv auseinander. Am Beginn stand die Entwicklung von Angeboten im Technologiefeld Assisted Reality: Kunden aus dem Bereich elektrische Netze wurden Datenbrillen zur Verfügung gestellt, über die im Störungsfall Siemens-Techniker gemeinsam mit Kundenmitarbeitern Fehler orten und beheben konnten. „Dabei reicht es aber nicht, eine einfache Video-Session zu eröffnen. Wir hatten es hier mit besonderen Anforderungen zu tun, wie zum Beispiel Auflösung, Security, Abhörsicherheit, Handsfree, Einblenden von Dokumenten oder Videos, Pointer-Darstellungen in der Datenbrille, Sprachsteuerung, Ausfiltern von Umgebungsgeräuschen, Fotodokumentation, etc.“, erinnert sich Norbert Zehetner, Leiter der Digital-Grid-Einheit Energieautomatisierung von Siemens Smart Infrastructure.
Dazu kam noch: „Nachdem wir eine funktionstüchtige Software und auch die entsprechende robuste Hardware der Datenbrille für unsere Zwecke gefunden haben, mussten wir diese Datenbrille als Arbeitsmittel Siemens-intern genehmigen lassen. Wir waren eine der ersten Siemens-Einheiten mit so einem Vorhaben. Dabei waren viele Aspekte wie Arbeitssicherheit, Hygiene und Datenschutz zu berücksichtigen“, so Zehetner weiter. In einem Feldversuch mit einem österreichischen Energieversorgungsunternehmen wurde die Assisted-Reality-Technologie erfolgreich eingesetzt und getestet. Die Erfahrungen aus diesem Versuch samt Feedback des Kunden wurden in die Verbesserung des Gesamtsystems eingearbeitet.
Digitale Serviceangebote für die Kunden
Doch die Geschäftsstruktur von Siemens Digital Grids in Österreich zeichnet sich dadurch aus, dass die meisten der rund 400 Kunden nicht im von Wien aus nahen Niederösterreich ansässig sind, sondern im Gegenteil in sehr weit entfernten Regionen wie Pakistan, Äthiopien, Aserbaidschan, Sri Lanka oder Australien, um nur einige zu nennen.
„Besonders bei solchen Projekten ist es sinnvoll, Digital Services anzubieten und die Kunden mit dem entsprechenden Equipment auszustatten, sodass unsere Spezialisten nicht lange reisen, auch mit der entsprechenden Wirkung für Umwelt und Klima, und persönlich vor Ort sein müssen“, erklärt Robert Tesch, Leiter Digital Grids bei Siemens Smart Infrastructure für Österreich und CEE, und nennt dabei bereits einige der Vorteile des digitalen Serviceangebots für die Kunden.
Die Vorgehensweise, den Kunden virtuell einzubinden, hat sich auch im Bereich Schaltschränke für Schutz- und Leittechnikanlagen bewährt. Auf diese Weise können das technische Design und der Aufbau der elektronischen Steuer- und Schaltelemente schon in der Frühphase von Projekten gemeinsam mit dem Kunden abgeklärt, dokumentiert und freigegeben werden. „So eine fokussierte virtuelle Session mit dem Kunden hilft dabei, ein gemeinsames Verständnis herzustellen und Missverständnisse von Beginn an auszuschalten. So können Dinge frühzeitig geklärt werden, die sonst oft erst bei der Werksabnahme zum Vorschein kommen würden. Dadurch entfallen auch nicht geplante Mehraufwände durch nachträglich notwendige Änderungen“, erläutert Zehetner einen weiteren Vorzug des Einsatzes dieser digitalen Technologien. Zum Beispiel mit dem österreichischen Stromübertragungsnetzbetreiber Austrian Power Grid (APG) kamen solche virtuellen Durchsprachen bereits zum Einsatz.
Weiterentwicklung in Richtung virtuelle Werksabnahme
Nicht nur, dass man bei Siemens Digital Grid schon frühzeitig über Digital Services nachdachte, machte man sich in der Folge bald auch an die Weiterentwicklung und Erweiterung dieses Angebots – und zwar in Richtung virtuelle Werksabnahme. Dabei wird die gesamte Leittechnikanlage (Stations- und Feldleittechnik inklusive zugehöriger Rechnersysteme) im Prüfraum auf dem Gelände der Siemens City in Wien aufgebaut, wie bei einer Vorort-Abnahme auch. Die Tests, Prüfungen und Dokumentationen vor der Freigabe der Lieferung durch den Kunden finden dann aber zum Teil virtuell statt. „Die virtuelle Abnahme ist viel komplexer als nur der Einsatz einer Assisted Reality Datenbrille. Bei der Abnahme gibt es nicht nur eine Videoquelle, nämlich die Datenbrille, die dem Kunden zur Ansicht gebracht werden muss, sondern bis zu neun verschiedene. Außerdem müssen zusätzlich Kameras, die Devices wie Schutzgeräte und Bay Controller abfilmen, sowie Monitorbilder von Rechnersystemen eingebunden werden“, erklärt Zehetner.
Schließlich wurde ein für die virtuelle Abnahme geeignetes Gesamtkonzept unter Einbeziehung der erforderlichen Hard- und Software erstellt und erfolgreich getestet. Der erste Einsatz dieses Systems zur virtuellen Werksabnahme fiel dann zufällig mit dem Corona-Lock-down im Frühjahr zusammen. „Viele Digitalisierungs- oder Virtualisierungsaktivitäten wurden erst durch die Corona- Maßnahmen ausgelöst. Wir haben unabhängig von der Pandemie bereits lange vorher an solchen Angeboten gearbeitet und die erste Verwendung ist dann zur Zeit der Beschränkungen erfolgt. Um jedoch die Tests auch erfolgreich durchführen zu können, ist eine intensive Einbindung des Kunden schon vorab unumgänglich. Nur so kann dessen Akzeptanz gegenüber der Verwendung von neuen Technologien erreicht werden“, so Zehetner.
Die virtuelle Abnahme ist viel komplexer als nur der Einsatz einer Assisted Reality Datenbrille. Bei der Abnahme gibt es nicht nur eine Videoquelle, nämlich die Datenbrille, die dem Kunden zur Ansicht gebracht werden muss, sondern bis zu neun verschiedene. Außerdem müssen zusätzlich Kameras, die Devices abfilmen, sowie Monitorbilder von Rechnersystemen eingebunden werden.
Norbert Zehetner, Leiter der Digital-Grid-Einheit Energieautomatisierung, Siemens Österreich
Pilotanwendung mit Austrian Power Grid
Zur ersten Pilotanwendung kam es im Zuge eines Refurbishment-Projekts mit APG. Für einen Abzweig einer Höchstspannungsschaltanlage der APG wurde ein virtueller Factory Acceptance Test mit dem Aufbau der notwendigen Technologien in der Siemens City und der remote Einbindung des Kunden zu Testzwecken unter realen Bedingungen durchgeführt. Im Zentrum steht dabei ein sogenanntes Feldleitgerät von Siemens, das durch verbundene intelligente Komponenten, vereinfacht dargestellt, Schalter der Höchstspannungsanlage steuert und überwacht. „Ziel des Tests war die Prüfung der Praktikabilität und Durchführbarkeit von virtuellen Werksabnahmen. Das Ergebnis war insgesamt positiv. Probleme mit der Bildqualität haben wir mit verbesserten Technologien behoben“, zieht Zehetner eine erste Bilanz.
„Bei uns werden Durchsprachen mit Assisted Reality möglicher Abstimmungspunkte im Schaltschrankbau mit hohem Detailierungsgrad bereits durchgeführt. Beim Feldabnahmetest mit Siemens haben wir die Erfahrung gemacht, dass eine virtuelle Abnahme von Teilkomponenten sinnvoll und möglich ist; aktuell ist der zeitliche Aufwand für einen vollständig virtuellen Feldabnahmetest für uns jedoch höher als eine Abnahme vor Ort. Es hat sich gezeigt, dass Prüfungsabläufe über die Ferne strukturierter abgearbeitet werden müssen und eine konzentriertere Arbeitsweise mit zusätzlichen Pausen erfordern“, äußert sich Erich Gottlieb, Koordinator Anlagenleittechnik bei APG. „Vor weiteren zukünftigen Abnahmen müssen seitens unserer IT zusätzlich noch Abklärungen bezüglich Cybersecurity getroffen und umgesetzt werden“, bemerkt Gottlieb weiter.
Dieser erste Test erfolgte im herausfordernden Umfeld der kritischen Infrastruktur. Steuerschränke, die von APG designt und von Siemens angefertigt, verdrahtet und bestückt werden, samt zugehöriger Stations- und Feldleittechnik sind zentrale Elemente für die sichere Stromversorgung des ganzen Landes. Der Abnahmetest musste daher höchsten Sicherheitsanforderungen, auch auf dem Gebiet der Cybersicherheit, entsprechen.
„Manche Kunden stehen virtuellen Tests sehr skeptisch gegenüber, andere nehmen das Angebot gerne an. Persönliche Treffen wird es jedenfalls immer wieder geben – das gehört zu einer Kundenbeziehung einfach dazu -, aber es ist gut, dass wir brauchbare virtuelle Angebote geschaffen haben und ständig weiterentwickeln, denn so oder so werden diese Technologien in Zukunft sicher wichtiger werden“, so Tesch abschließend.
INFOBOX:
Energieautomatisierung bei Siemens Österreich
Rund 4000 Schaltschränke – von Kleinstschränken bis zu großen Freifeldschränken – inklusive Leittechnik werden jährlich bei Siemens Österreich designt, angefertigt, verdrahtet und mit den notwendigen elektrotechnischen Komponenten bestückt sowie an rund 400 Kunden ausgeliefert – rund 80 von ihnen befinden sich in Ausland. In den letzten 20 Jahren wurden Projekte unter anderem in folgenden Ländern umgesetzt: Äthiopien, Afghanistan, Algerien, Australien, Brasilien, Indien, Sri Lanka, Malaysien, Indonesien, Georgien, Armenien, Ukraine, Aserbaidschan und Russland.