© Siemens
Artikel drucken

Perfekt beim ersten Mal

Steigender Bedarf an kundenspezifischen Produkten erhöht die Notwendigkeit nach „first time right“ in der Produktion.

Forschung & Entwicklung

18.05.2021

Lesezeit 7 Min

Michael Heiss

Das würde doch niemand tun: Es ist finstere Nacht. Ich fahre im Auto zum reservierten Hotel. Die Autoscheinwerfer sind ausgeschaltet. Aber ich habe ein Navi, das mir sagt: „jetzt rechts abbiegen“, „geradeaus weiter“ usw. Ohne jegliche Sicht folge ich blind den Anweisungen des Navigationssystems, bis ich mein Hotel vielleicht erreiche. Es ist nicht völlig unmöglich, so sein Ziel zu erreichen, aber jeder vernünftige Mensch würde dafür das Licht einschalten. Für jeden Autofahrer selbstverständlich, aber noch nicht in der industriellen Produktion. Dort wird mithilfe modernster Technologien mit CAD-Software das Produkt konstruiert und mit Hightech-Simulationsprogrammen werden die Eigenschaften des Produktes optimiert. Die detaillierte Planung der Bearbeitung an der computergesteuerten CNC-Maschine erfolgt mittels CAM-Software. Vor dem Start der Produktion gibt es noch eine Simulation, ob das CNC-Programm korrekt ist und das Produkt voraussichtlich richtig produziert wird. Ein Klick mit der Maus und das Maschinenprogramm geht direkt an die Maschine.

Blindes Vertrauen in die Planung?

Sobald die Produktion an der CNC-Maschine startet, laufen jedoch Bewegungen innerhalb der Maschine meist völlig blind ab: „Jetzt nach rechts bewegen“ und „Vorschubgeschwindigkeit 300 mm pro Minute“ oder so ähnlich heißt es dann für den Fräskopf. Die Maschine ist so gebaut, dass eine SINUMERIK-Steuerung alle Vorgaben der Planung mit höchster Genauigkeit einhält. Auch hier gilt: Es ist nicht unmöglich, so das Ziel von hoher Produktionsqualität zu erreichen. Aber das wird kaum gleich beim ersten Stück eines neuen Produktes gelingen. Wenn ich 10.000 identische Stück produzieren soll, dann ist es verkraftbar, wenn ich am Beginn so lange Ausschuss produziere, bis der Plan perfekt der Realität entspricht. Wenn jedoch jedes Stück kundenspezifisch ist, also nur ein Stück von jeder Art produziert werden soll (Lotsize One), dann ist es unwirtschaftlich, wenn ich erst nach 5 Stück Ausschuss die geforderte Produktqualität hinbekomme. First time right ist gefordert. Closed Loop Manufacturing ist die Antwort darauf. Ich muss aus den Abweichungen der Vergangenheit bei ähnlichen Produkten lernen, um zukünftig beim ersten Stück des neuen Produkts die geforderte Produktqualität zu erreichen.

Das Institut für Fertigungstechnik der Technischen Universität Wien unter der Leitung von Professor Friedrich Bleicher ist eines der weltweit führenden Forschungsinstitute auf dem Gebiet CNC-Maschinen und es entwickelt innovative Closed-Loop-Manufacturing-Ansätze für die Produktion der Zukunft. Die Idee von Closed Loop Manufacturing ist einfach: Die aus den einzelnen Arbeitsschritten gewonnenen Daten werden gesammelt, um Erkenntnisse daraus zum CAM-Programm zurückzuführen. Im CAM-Programm wird die Produktion im Detail geplant und dort entstehen die Steuerungsprogramme der CNC-Maschinen. Dieses kontinuierliche Lernen aus den gewonnenen Daten nennt man das Schließen der Schleife von der Planung zur Produktion und wieder zurück zu einer verbesserten Planung, auf Englisch „closed loop“. In der Praxis ist es jedoch nicht ganz so einfach. Ein erfahrener Bediener hat seine Hand bei neu zu produzierenden Werkstücken immer auf dem Override-Knopf, so einer Art Gaspedal, mit dem er in die programmierte Bearbeitungsgeschwindigkeit eingreifen kann, also langsamer oder schneller als geplant. Er weiß, wie der aktuelle Verschleißzustand des Werkzeuges ist, und spürt an den Vibrationen der Maschine und hört an den Geräuschen, wann sich eine Resonanz der Maschine, das sogenannte Rattern, anbahnt. Die starke Resonanzschwingung kann unerwünschte Rattermarken verursachen, also kleine Unebenheiten an der sonst glatten Oberfläche. Wenn der Bediener schnell genug reagiert, kann er in diesem Bereich langsamer oder – mit viel Erfahrung – sogar schneller als geplant fahren, um das Rattern zu verhindern.

Programm lernt aus Erfahrungen

Ein erster Ansatz von Closed Loop Manufacturing ist, die aktuelle Stellung der Override-Funktion immer abzuspeichern und automatisch dem CAM-Programm zur Verfügung zu stellen. Das CAM-Programm kann dann aus den Erfahrungen lernen und den Steuerungscode der Maschine so anpassen, dass sie beim nächsten Mal gleich selbst die optimale Vorschubgeschwindigkeit verwendet. Das Ziel von Friedrich Bleicher geht aber deutlich darüber hinaus: „In Zukunft programmieren wir nur noch Rauheiten und keine Vorschübe.“ „Mit den heutigen digitalen Technologien müssen wir die Zerspanung gänzlich neu denken. Die CNC-Maschine der Zukunft optimiert die Technologieparameter selbst. Und das besser, als ein Mensch es jemals könnte“, erklärt Bleicher.

Sein Institut hat beispielsweise den intelligenten Werkzeughalter erfunden und ihn gemeinsam mit der Firma Schunk zum Produkt gemacht. „Wir messen 8000 Mal pro Sekunde und können so schon geringe Vibrationen erkennen. Unser Ziel ist es, so schnell auf ungewollte Vibrationen zu reagieren, dass keine Beeinträchtigung der Oberflächenqualität stattfindet“, so Bleicher. Sein Mitarbeiter Gernot Mauthner ergänzt: „Wir wollen für die Industrie das volle Potenzial von Closed Loop Manufacturing nutzbar machen. Gemeinsam treiben wir die heute zur Verfügung stehenden Technologien im Praxistest mit Industriepartnern an ihre Grenzen und entwickeln sie dort weiter, wo es notwendig ist. Technologien wie SINUMERIK Integrate, Siemens Industrial Edge und NX Open sind Schlüsseltechnologien auf dem Weg.“ 

„Wir laden Industriepartner ein, die in der eigenen Fertigung mittels Closed Loop Manufacturing die Produktqualität steigern und die Kosten und Taktzeiten senken wollen. Wenden Sie sich an uns und lassen Sie sich in einem ersten Schritt einmal zeigen, was schon heute in unserem TEC-Lab am Wiener Arsenal und in der Pilotfabrik der TU Wien umgesetzt wurde“, ruft Bleicher auf. Der neutrale Boden einer Pilotfabrik und der eines Universitätslabors seien ideal, um mit den geeigneten Industriepartnern in einem Co-Creation-Prozess solch innovative Konzepte in die jeweils eigenen Anforderungen zu übersetzen. So wie der Autofahrer die Scheinwerfer selbstverständlich einschaltet, werden in Zukunft genauso selbstverständlich Bearbeitungsdaten hochfrequent aus der Maschinensteuerung ausgelesen und alle zur Verfügung stehenden Sensoren genutzt. Mit diesen Daten ist es möglich, aus dem wirklichen Verhalten der Maschine für die zukünftige Planung zu lernen und die Anweisungen des CAM-Programmes an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Es reicht eben nicht, Daten nur zu sammeln. Daten müssen möglichst automatisch (closed loop) zur Verbesserung der Arbeitsabläufe genutzt werden, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu erarbeiten.

Infobox

Mit KI zum geschlossenen Kreis

Das Institut für Fertigungstechnik der TU Wien treibt das Thema Closed Loop Manufacturing für die Industrie voran. Die Datendurchgängigkeit beim Engineering (0 bis 4 – siehe Grafik) ist alleine nicht ausreichend. Auch die Datendurchgängigkeit in der Produktion und deren digitalem Zwilling (5 bis 8) ist erforderlich für Closed Loop Manufacturing. Wirklich geschlossen ist der Kreis aber erst dann, wenn aus den erfassten Daten die richtige Maßnahme selbständig abgeleitet werden kann. Hier werden Methoden der künstlichen Intelligenz eingesetzt (9).

Über den Autor

Michael Heiss
Michael Heiss ist Principal Consultant für Digital Enterprise bei der Siemens AG Österreich und Honorarprofessor für Innovations- und Technologiemanagement an der TU-Wien.