Roboterarm in der Testanlage
Artikel drucken

Zu Besuch am Hightech-Spielplatz

Das Manufacturing Solutions Lab von Siemens erfüllt viele Zwecke: Personalqualifizierung, Weiterentwicklung und Test von Portfolio und Technologien sowie...

Digitale Transformation

15.09.2023

Lesezeit 8 Min

Christian Lettner

Wenn der Berg nicht zum Propheten kommen kann, baut man sich einen eigenen kleinen Berg, den der Prophet leicht erreichen kann“. Mit dieser Abwandlung eines bekannten Sprichworts kann man den Ursprung umschreiben, der einer neuen Anlage von Siemens für Ausbildungs- und Testzwecke im Umfeld von Projekten in der Automobilindustrie zugrunde liegt. Die im neuen Siemens>Innovationhub>Oberösterreich angesiedelte Einheit für Automotive-Automatisierungs- und -Softwarelösungen arbeitet für viele Premium-Hersteller der deutschen Autoindustrie, deren Werke und Anlagen auf der ganzen Welt verteilt sind. Um Mitarbeitende in Ausbildung oder neue Mitarbeitende mit den Technologien, die in den Projekten bei den Kunden zum Einsatz kommen, vertraut zu machen, könnte man viele Automobilwerke in verschiedenen Ländern besuchen. Oder – wie in der Variation des Sprichworts eingangs angedeutet – man könnte sich selbst eine Anlage aufbauen, die im Prinzip die wichtigsten Elemente einer Kundeninstallation im Automotivebereich enthält und auf der man praktische Erfahrungen sammeln kann, so als wäre man beim Kunden in einer realen Automobilfabrik vor Ort. Und genau das wurde im Techbase in Linz, in dem sich das neue Headquarter für Siemens in Oberösterreich befindet, mit dem Manufacturing Solutions Lab realisiert.

Durchgängiges Automotive-Portfolio

Das neue Labor ist Teil des weltweiten Kompetenzzentrums des Siemens-Konzerns für die Automobilindustrie, das bei Siemens in Oberösterreich am Standort Linz angesiedelt ist. „Unsere Tätigkeiten beziehen sich auf die gesamte Automobilproduktion, aber auch die Fertigung von Batterien für Elektroautos. Siemens bietet ein durchgängiges, optimal abgestimmtes Portfolio, das alle Anforderungen der Automobilindustrie abdeckt. In Kombination mit unserem tiefen Know-how für Automatisierung, Elektrotechnik und Softwareentwicklung sind wir ein langjähriger Partner für die Automobilindustrie weltweit“, sagt Sebastian Israel, der das Kompetenzzentrum leitet. „Neben dem klassischen Hard- und Softwaregeschäft arbeiten wir auch seit langer Zeit erfolgreich im globalen Projektmanagement, im Hard- und Software-Engineering, wir programmieren Roboter, nehmen Anlagen virtuell in Betrieb und übernehmen das Management der Baustellen vor Ort beim Endkunden. Dadurch können wir im Gegensatz zu den meisten Marktbegleitern auch ein tiefgreifendes technologisches Verständnis für die Produktionsprozesse unserer Kunden vorweisen. Wir bieten alles aus einer Hand, erreichen hohe Anlagenverfügbarkeit, gestalten eine optimale Vernetzung aller Komponenten und decken auch Themen wie Sicherheit, Usability und Energieeffizienz ab“, so Israel weiter.

„Neben der Qualifizierung von Mitarbeitenden dient das Manufacturing Solutions Lab auch dazu, unsere eigenen Technologien, die die Basis für unser Portfolio bilden, zu testen und weiterzuentwickeln. Wir haben hier eine Art Hightech-Spielplatz aufgebaut, auf dem wir außerhalb des straffen Zeitplans unserer Kundenprojekte experimentieren können, um schlussendlich den Kunden einen noch größeren Mehrwert anbieten zu können“, berichtet Gerhard Allesch, der im Team für Innovationen und die Digitalisierung des Produktionsprozesses zuständig ist. So können im Lab etwa OEM-Standards im Anlagenbau getestet und der eigene Standard namens SiCar kann weiterentwickelt werden. Last but not least spielt das Manufacturing Solutions Lab auch bei Forschungsprojekten eine große Rolle.

Das Test- und Trainingscenter beinhaltet die wichtigsten technischen Elemente einer realen Produktionsanlage. Diese sind: Robotik, Fördertechnik und Sicherheitstechnik. Im Manufacturing Solutions Lab sind drei Roboter von unterschiedlichen Herstellern im Einsatz. Dadurch können die eigenen Technologien auf verschiedenen Roboterstandards erprobt werden. Die Fördertechnik wird durch zwei Produktionslinien bzw. Förderstrecken repräsentiert, auf denen Bauteilträger mittels Roboterarmen beispielsweise unter Einsatz von Farberkennung bestückt werden können. Es können auch Bauteile von einer Förderstrecke auf eine andere gesetzt werden. In diesem Zusammenhang gibt es einige interessante Forschungsaktivitäten wie etwa auf dem Gebiet der automatischen Bewegungsplanung bei Robotern. „Hier geht es darum, dass Roboter Bewegungen auch in Interaktion mit anderen Geräten kollisionsfrei ausführen. Beim Thema Haptik und Robotersysteme soll mittels Sensoren ein intelligentes Greifen möglich werden, so als würden Roboterarme fühlen können“, erklärt Innovationsmanager Allesch.

Das letzte Element der Anlage im Manufacturing Solutions Lab ist die Sicherheitstechnik. Die ist eng verknüpft mit einer Technologie, die ebenfalls bei Siemens in Linz im Fokus steht – fahrerlose Transportsysteme (AGVs). „Diese erfahren in der Automobilindustrie gerade einen extremen Aufwind“, weiß Sebastian Israel. „Das betrifft sowohl den werksinternen Materialfluss als auch die getaktete Fahrzeugproduktion. AGVs erfüllen Logistikaufgaben, transportieren aber auch komplette Karosserien von einer Fertigungsstation zur nächsten. Dabei ist Safety ein ganz wesentlicher Aspekt.“ Auch im neuen Hightechlabor gibt es eine Verknüpfung der Roboterzelle mit AGVs, die sich im Lab bewegen. Auch hier werden Sicherheitsthematiken untersucht und umgesetzt. Im Rahmen einer Diplomarbeit an einer Linzer HTL geht es zum Beispiel um die sichere Einfahrt eines AGV in die Produktionszelle. „Durch Kooperationen wie diese kommen wir immer wieder in Kontakt mit interessierten Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden, dir durch solche Praxisarbeiten später einmal wertvolle Mitarbeitende werden können“, hebt Sebastian Israel hervor, um gleichzeitig zu betonen, dass sein Team stets auf der Suche nach motivierten Fachkräften sei.

Automatisierungs- und Softwareexpertise

Die Beschäftigung mit AGVs ist ein relativ neuer Bereich, in dem die Automotive-Expert:innen tätig sind. In den letzten Jahren wurde nämlich die ausgewiesene Automatisierungskompetenz dieser Einheit um eine explizite Softwareexpertise ergänzt. Eine der jüngsten Eigenentwicklungen auf diesem Gebiet ist eine Leitsteuerung für fahrerlose Transportsysteme für Produktion und Logistik, namens SIMOVE FM (Fleet Manager). „In unserem Bereich entwickeln wir Software-Produktlösungen mit großer Nähe zur Automatisierungstechnik. Mit Produktlösungen meinen wir individuelle Lösungen mit einem produktähnlichen Charakter; das bedeutet, dass wir die maßgeschneiderten Lösungen für die Kunden nicht immer von Neuem beginnen müssen, weil wir schon auf bestehende Projekte aufbauen können“, erklärt Frank Kuchler-Baudach, der Leiter des Bereichs Shopfloor IT-Solutions.

SIMOVE FM ist Bestandteil des SIMOVE-Systembaukastens von Siemens für AGV-Lösungen. SIMOVE FM bietet Unternehmen eine intelligente Steuerung für eine größere Anzahl von AGVs, die herstellerübergreifend ist; es können also AGV-Flotten verschiedener Hersteller damit gesteuert werden. Die Software wird ständig mit neuen Optimierungsmöglichkeiten ergänzt. Die Leitsteuerung verteilt eingehende Fahraufträge und wählt automatisch das am besten für den Auftrag geeignete AGV aus. Dabei berücksichtigen die Algorithmen nicht nur Streckenlängen, sondern auch den Anfahrtsweg zur Aufnahme, Behinderungen am Weg oder den Batterieladestand. Eine weitere wichtige Aufgabe von SIMOVE Fleet Manager ist die Kommunikation mit der Anlagenumgebung, etwa wenn die Fahrzeuge in einem Werk in eine Produktionszelle einfahren. Wie erwähnt wird dieser Aspekt neben anderen Sicherheitsthemen auch im Manufacturing Solutions Lab berücksichtigt. Die Leitsteuerung übernimmt zusätzlich auch das Lademanagement der Fahrzeugbatterien.

Eine andere von Siemens in Linz entwickelte Software-Produktlösung nennt sich SIPLANT. Durch dieses Analysewerkzeug können Optimierungspotenziale in Produktionsumgebungen entdeckt werden. SIPLANT verbindet sich mit Maschinen, sammelt Daten und erstellt Analysen und Reports, etwa über die Anlagenverfügbarkeit oder über Verzögerungen eines Teils entlang der Produktionslinie. Dadurch kann die Gesamtpformance von Anlagen erhöht werden. Weitere Aktivitätsfelder der Software-Expert:innen sind App- Entwicklungen für den Einsatz in Edge-Ökosystemen. Das Manufacturing Solutions Lab ist mit Schnittstellen sowohl für SIMOVE FM als auch SIPLANT ausgestattet.

Auch wenn das Manufacturing Solutions Lab schon jetzt viele Anwendungsmöglichkeiten bietet, so gibt es immer noch Raum für Weiterentwicklungen. Eine steht schon kommendes Jahr auf dem Plan. Dann sollen nämlich sogenannte Elektrohängebahnen, wie sie in der Automobilproduktion zur Endmontage benötigt werden, in die Roboterzelle integriert werden. Auch hier gibt es wieder eine Kooperation mit jungen Nachwuchskräften. So sollen bei der Realisierung der Elektrohängebahnen Maturant:innen aus dem Mechatronikbereich eingebunden werden und dabei wertvolle praktische Erfahrung sammeln können.

Über den Autor

Christian Lettner
Chefredakteur hi!tech